“Chinas Wirtschaft durchläuft gerade einen enormen strukturellen Wandel”

Alles neu macht der Mai? Der bisherige Kapitalmarktverlauf konnte sich durchaus sehen lassen. Mit vielen Aktienkursen ging es bergauf, auch auf der Anleihenseite gibt es ordentliche Renditen. Überlagert wird die Situation von einer Inflation, die noch nicht vollständig gezähmt wurde. Felix Herrmann, Chefvolkswirt ARAMEA AG, im Interview.
7. Mai 2024
Felix Herrmann, Chefvolkswirt ARAMEA Asset Management AG / Foto: © ARAMEA

Alles neu macht der Mai? Der bisherige Kapitalmarktverlauf konnte sich durchaus sehen lassen. Mit vielen Aktienkursen ging es bergauf, auch auf der Anleihenseite gibt es ordentliche Renditen. Überlagert wird die Situation von einer Inflation, die noch nicht vollständig gezähmt wurde. Felix Herrmann, Chefvolkswirt ARAMEA AG, im Interview.

INTELLIGENT INVESTORS: Herr Herrmann, angesichts der multiplen Krisen und schwächelnder Konjunktur, welche Erwartungen hegen Sie für die Entwicklung der internationalen Aktienmärkte in den kommenden Monaten?
Felix Herrmann
: Grundsätzlich gibt es aus meiner Sicht weiterhin gute Argumente für eine solide Aktienmarktperformance bis Jahresende. Klammert man kurzfristigen saisonalen Gegenwind einmal aus, dann spricht aus meiner Sicht die wirtschaftliche Erholung in der Eurozone und damit anziehende Unternehmensgewinne genauso für steigende Aktienkurse wie die Aussicht auf fallende Leitzinsen. Das Repricing dürfte an den Zinsfront abgeschlossen sein – das ist eine gute Nachricht für den Markt.

II: Wachstumsaktien/Technologie standen lange ganz oben auf der Liste. Sind hierbei die USA „the place to be“?
Herrmann:
Ja, ganz eindeutig. Auch wir hier in Europa haben das eine oder andere Unternehmen, das im Konzert der großen US-Firmen mitspielen kann. Denken Sie an ASML oder SAP. Aber letztlich spielt die „Tech-Musik“ in den USA und das wird auch bis auf weiteres so bleiben. Das zeigt beispielsweise der Blick auf die Forschungsausgaben im Bereich von Gen AI an. Dort liegen die USA weit vor Europa.

II: Können Substanzaktien angesichts der Lage und unter Bewertungsaspekten Boden gut machen?
Herrmann:
Value- oder Substanzaktien tun sich seit geraumer Zeit schwer. Meist brauchen sie vor allem steigende Zinsen, damit sie outperformen können. Das haben wir im Jahr 2022 gut beobachten können. Im Jahr 2024 laufen Value-Titel auch wieder recht passabel. Letztlich sehe ich ganz übergeordnet bei Value-Aktien aber das Problem darin, dass sie im Schnitt weniger von den großen Mega-Trends profitieren, welche die Marktphantasien kreieren. Das soll aber natürlich nicht heißen, dass es keine hochspannenden Titel im Value-Bereich gibt.

II: Wie bewerten Sie aktuell das Chance-Risiko-Profil von europäischen Aktien?
Herrmann:
Europäische Aktien sind historisch günstig – unter anderem im Vergleich zu US-Werten – und das selbst nach Bereinigung um die unterschiedlichen Sektorgewichte in den großen Indizes. Da sich die Wirtschaft in der Eurozone nach unserem Dafürhalten erholt, während sie in den USA etwas an Kraft verliert, spricht auch das konjunkturelle Momentum für europäische Aktien. Hinzu kommt die Aussicht auf früher fallende Zinsen in der Eurozone als in den USA, was europäische Titel relativ betrachtet, befeuern dürfte.

II: Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in China hinsichtlich Wachstumsperspektiven und Bewertung ein?
Herrmann:
Chinas Wirtschaft durchläuft gerade einen enormen strukturellen Wandel. Das alte Wachstumsmodell, welches vor allem durch die Expansion im Immobiliensektor gestützt wurde, funktioniert nicht mehr. Die schrumpfende Erwerbsbevölkerung senkt ebenfalls das Wachstumspotenzial. Zu dem strukturellen Gegenwind kommen aber auch konjunkturelle Faktoren hinzu, die das Wachstum hemmen. Die Chinesen halten sich beim Konsum stark zurück, sodass die Preise in China kaum mehr steigen. Das Wachstum Chinas wird aus meiner Sicht in der kurzen Frist stark davon abhängen, ob und wie stark die Regierung gewillt ist, dem Konsumenten unter die Arme zu greifen. Aufgrund der hohen gesamtwirtschaftlichen Schulden sind hier aber auch Grenzen gesetzt, sodass ich für Chinas ökonomische Zukunft nur bedingt optimistisch bin.

II: Was erwarten Sie an der Zinsfront (EZB vs. FED) im 2. Halbjahr?
Herrmann:
Vieles spricht dafür, dass die EZB erstmals überhaupt in einem Zyklus die Zinsen vor der Federal Reserve senken wird, was am geringeren Inflationsdruck in der Eurozone im Vergleich zu den USA liegt. Frau Lagarde spricht von zwei unterschiedlichen Tieren, die die Notenbanken zu zähmen haben. Da aber auch bei uns in der Eurozone die Inflation ein Problem ist und bleibt und die EZB zwar vorgibt, Fed-unabhängig zu agieren, letztlich aber doch auch immer mit einem Auge nach Washington schauen muss, erwarte ich nur zwei Zinssenkungen bis Jahresende seitens der EZB. Die US-Notenbank dürfte die Zinsen in diesem Jahr, wenn überhaupt, nur ein einziges Mal senken. Möglicherweise sehen wir die erste Senkung aber auch erst im kommenden Jahr.

II: Welche Anleihensegmente sehen Sie chancenreich?
Herrmann:
Wie im Vorjahr sind es auch in diesem Jahr bislang wieder die riskanteren Segmente des Rentenmarktes, welche die Performancerangliste anführen. Insbesondere Nachranganleihen von Banken weisen eine starke Wertentwicklung auf. Dank der hohen Carry konnten sich diese Anleihen den steigenden Zinsen gut widersetzen. In der zweiten Jahreshälfte erwarte ich nun mehr Rückenwind von der Zinsseite – dafür aber Gegenwind von der Spreadseite. Letzteres gilt insbesondere für riskantere Anleiheklassen, die bereits sehr enge Spreadniveaus aufweisen. Da ich jedoch bis Jahresende von keiner starken Spreadausweitung im Schnitt über alle Segmente ausgehe, halte ich Nachranganleihen und auch Hochzinsanleihen weiterhin für recht attraktiv. In unserem breit gestreuten Rentenfonds gewichten wir diese nun allerdings nur noch neutral, da wir das Gewicht an Investmentgradeanleihen erhöht haben.

II: Wie lautet Ihre Botschaft für dividendenorientierte Anleger? Auf was ist hierzu zu achten?
Herrmann:
Die Dividenden fließen weiter – und das kräftig. Die Unternehmen im DAX haben zusammengenommen jüngst wieder eine Rekordsumme an die Anleger ausgeschüttet. Die Aussicht auf fallende Zinsen in der zweiten Jahreshälfte dürfte Aktien, die eher einer Anleihe gleichen, weil sie hohe laufende Erträge in Form von Dividenden generieren, gut zu Gesicht stehen. Wichtig ist zudem natürlich immer, darauf zu achten, dass Unternehmen die Dividenden nicht aus der Substanz zahlen. Im Portfoliokontext auch immer auf Aktien bzw. Unternehmen zu setzen, die hohe Dividenden zahlen, diese ggf. sogar im Zeitablauf steigern und/oder im größeren Umfang Aktien zurückkaufen, ergibt aus meiner Sicht in nahezu jeder Marktphase Sinn.

II: Wie schätzen Sie Gold mit Blick auf den bisherigen Preisanstieg als Portfoliodiversifikator ein?
Herrmann:
Gold ist unbestritten ein gutes Diversifikationsinstrument für wohl jedes Portfolio – und das erst einmal unabhängig von der zurückliegenden Preisentwicklung. Der Anstieg, den das Edelmetall in den letzten Monaten hingelegt hat, mutet für mich allerdings übertrieben an und ist in erster Linie den Zentralbanken und hier wohl zuvorderst der chinesischen zu verdanken, die in großem Umfang Gold gekauft hat. Insofern wäre ich nicht gewillt, zum aktuellen Preisniveau weitere Goldpositionen aufzubauen.

II: Wie lautet Ihr Rat an Investoren, um ihr Portfolio gegen Verluste und eine nachhaltige Abwärtsbewegung abzusichern?Herrmann: Nachhaltige Abwärtsbewegungen gibt es zum Glück kaum – zumindest, wenn man in langen Investitionszeiträumen denkt. So abgedroschen es klingen mag: Diversifikation ist der Schlüssel, um Portfolien wetterfest zu machen. Und hier lohnt es sich einerseits, innerhalb des klassischen Assetklassen das volle Spektrum auszuschöpfen – ich denke bswp. an Nachrang- oder Wandelanleihen auf Rentenseite – und zum anderen, gezielt neue Assetklassen wie Private Debt oder Kryptowährungen mit ins Portfolio aufzunehmen.

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