Das Kreditgeschäft mit der Not

„Eiszeit auf dem Immobilienmarkt“, „Einbruch von Immobilieninvestments“, „Kollaps des Immobilienmarktes“. Das sind die Schlagzeilen, die die Öffentlichkeit und die Immobilien- und Finanzbranche dominieren. Fallende Preise, sinkende Transaktionszahlen, Ausweichbewegungen auf andere, lukrativere Märkte treiben so manchen Akteuren Schweißperlen auf die Stirn.
28. April 2023
Alexandre Grellier - Foto: © Drooms

„Eiszeit auf dem Immobilienmarkt“, „Einbruch von Immobilieninvestments“, „Kollaps des Immobilienmarktes“. Das sind die Schlagzeilen, die die Öffentlichkeit und die Immobilien- und Finanzbranche dominieren. Fallende Preise, sinkende Transaktionszahlen, Ausweichbewegungen auf andere, lukrativere Märkte treiben so manchen Akteuren Schweißperlen auf die Stirn.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Realität ganz anders aussieht, als es die Schlagzeilen vermuten lassen. Eines ist zwar klar: Die Zahl der Immobilientransaktionen ist tatsächlich zurückgegangen. Viele der traditionellen Investoren warten an der Seitenlinie, wie sich der Markt entwickelt. Es gibt jedoch einen Teilmarkt, an dem die Transaktionszahlen geradezu boomen: „Notleidende Kredite“ oder „Non-Performing Loans“ (NPLs) werden derzeit gehandelt wie selten zuvor – insbesondere von Private-Equity- und Hedgefonds, aber auch von spezialisierten Investmentboutiquen.

Ein Kredit wird als notleidend und damit als NPL eingestuft, wenn der Kreditnehmer ausstehende Zahlungen innerhalb von 90 Tagen nach dem Fälligkeitstermin für einen gewerblichen Kredit und innerhalb von 180 Tagen für einen Kleinkredit nicht leisten kann.

NPLs auf dem Vormarsch?

Um ihr Kreditrisiko und ihre finanzielle Stabilität zu bewerten, nutzen Banken NPL- und Kreditdeckungsquoten. Eine höhere NPL-Quote deutet auf einen erhöhten Anteil notleidender Kredite im Portfolio hin. Eine niedrigere Deckungsquote ist ein Indikator für ein höheres Ausfallrisiko. Viele Banken waren in den letzten Jahren bestrebt, Kapital freizusetzen und ihre Bilanzen zu bereinigen und verkaufen daher ihre NPLs. Auch der regulatorische Druck veranlasst sie dazu, die Zahl der NPLs in ihren Büchern zu reduzieren. Auch deshalb ist ein Anstieg der NPL-Transaktionen zu beobachten. Allein in den zurückliegenden neun Monaten konnten wir in unseren Transaktionsdatenräumen einen Anstieg der NPL-Transaktionen um 20 bis 25 Prozent beobachten.

Laut dem „EBA Risk Dashboard“ der Europäischen Bankenaufsicht machte die NPL-Quote in der Europäischen Union Ende 2022 1,8 Prozent aller Bankkredite beziehungsweise ein Volumen von 357 Milliarden Euro aus. Die Deckungsquote dieser Kredite sank im gleichen Zeitraum auf 43,4 Prozent, was das Risiko, gleichwohl aber auch den Ertrag solcher Investitionen erhöht.

Anstieg der NPLs in Deutschland

Die größten europäischen Volkswirtschaften Frankreich, Italien, Spanien und die Niederlande haben bisher einen Rückgang der NPLs insgesamt sowie bei den Hypotheken- und Unternehmensimmobilienkrediten zu verzeichnen. Deutschland hingegen ist einer der wenigen Märkte, der einen Anstieg der NPLs von 29,7 Milliarden Euro im Dezember 2021 auf 31,6 Milliarden Euro im Dezember 2022 verzeichnete. Im Immobiliensektor reicht die NPL-Quote von 0,5 Prozent (GER), 1,2 Prozent (NL), 1,8 Prozent (FR), 4,3 Prozent (ES), 9,3 Prozent (IT) und Schweden mit der niedrigsten Quote von 0,1 Prozent bis hin zu Zypern mit der höchsten Quote von 24,2 Prozent. Die gesamte NPL-Quote im Immobiliensektor liegt in den 27 EU-Mitgliedstaaten bei 1,7 Prozent.

Das Vereinigte Königreich verzeichnete ebenfalls eine Stagnation der NPLs insgesamt. Aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen Lage in Großbritannien ist jedoch davon auszugehen, dass die Zahl der NPLs insbesondere in den Bereichen Immobilien, Banken sowie kleine und mittlere Unternehmen steigen wird.

Mit einem Auslaufen vieler staatlicher Entschuldungsprogramme, die während der Corona-Pandemie aufgelegt wurden, beobachtete Eurostat schon Ende 2022 eine neue Rekordzahl an Unternehmensinsolvenzen und Umstrukturierungen. Mit einer Verschärfung der wirtschaftlichen Lage werden auch diese Zahlen weiter steigen und je mehr Kreditnehmer ihre Kredite nicht mehr ablösen können, desto stärker wird die NPL-Quote steigen. Wirtschaftliche Unsicherheit, Inflation und hohe Zinssätze werden den Trend noch verstärken. Allein für Deutschland erwartet das NPL-Barometer der Frankfurt School of Finance & Management und der Bundesvereinigung Kreditankauf und Servicing für 2023 einen Anstieg von 15 Prozent.

NPLs kompensieren den Rückgang der Immobilientransaktionen

Interessanterweise kompensieren die Zunahme von NPL-Transaktionen und die Organisation von Kreditrestrukturierungen den Rückgang der klassischen Immobilientransaktionen in unseren Datenräumen. Der Immobilienmarkt gleicht sich stets von selbst aus; aus jeder Krise ergeben sich Chancen in Form von Investitionsmöglichkeiten.

Eine der leichteren Aufgaben ist es, Unmengen von Unterlagen zu sichten, um die mit einer Investition verbundenen Chancen und Risiken zu bewerten und einzuschätzen. Sie müssen außerdem die Forderungen anderer Gläubiger im Auge behalten, von denen einige international und an lokale Gerichtsbarkeiten gebunden sein könnten. Außerdem besteht das zusätzliche Risiko, dass der Kreditnehmer mit den Tilgungszahlungen in Verzug gerät und am Ende ein Verlustgeschäft entsteht. NPLs sind ein riskantes Geschäft, das eine gründliche Vorbereitung erfordert.

Ein NPL kann auch einen Wettlauf gegen die Zeit bedeuten. Bis eine für alle Schuldner passende Lösung gefunden ist, können einzelne Schuldner durch Regressforderungen oder Pfändungen mit einem Schlag jede Chance zunichte machen, dass sich aus einem NPL ein leistungsfähiger Kredit entwickelt.

Überwiegen die Vorteile die Risiken?

Wer eine NPL-Investition in Erwägung zieht, sollte vorbereitet sein und eine gründliche Due-Diligence-Prüfung durchführen. Bei Kreditvolumina, die auf Unternehmensebene mehrere Millionen oder sogar Milliarden Euro erreichen, sind mangelndes Wissen und Know-how keine Option. Die Beratung durch einen spezialisierten NPL-Berater oder die Zusammenarbeit mit einem NPL-Fonds ist sinnvoll, ebenso wie die Investition in die richtige digitale Infrastruktur zur Bewältigung der großen Anzahl von Dokumenten. Ob Geschäftsvorfälle, Kreditverträge, Dienstleister- und Subunternehmerverträge, ausstehende Zahlungen, Aufstellungen von stillen Reserven oder mögliche Ansprüche von Käufern bei verzögerter Fertigstellung – die Menge an Dokumenten kann schnell enorme Dimensionen annehmen.

Ein virtueller Datenraum (VDR) kann den Transaktionsprozess optimieren und die Dokumentation auf dem neuesten Stand halten. Transaktionsdatenräume können für die Aushandlung von Geheimhaltungsvereinbarungen und die Verteilung von Angebotsmemoranden genutzt werden. VDRs erleichtern dies, da der Zugriff auf Daten jederzeit und überall möglich ist. Die Dokumente können in Echtzeit bearbeitet werden – von allen Beteiligten in der NPL-Transaktion.

Due Diligence entscheidend

Die Vereinfachung des Dokumentenzugriffs ist für eine effektive Due Diligence entscheidend. Die Möglichkeit, Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten, um Risiken zu bewerten, die Zusammenarbeit zu verbessern und Vertrauen aufzubauen, ist von entscheidender Bedeutung. Q&A‑Prozesse sind von zentraler Bedeutung, da der Koordinationsbedarf enorm ist, insbesondere wenn es mehrere Streitparteien und Gläubiger gibt.

Die hohe Komplexität von NPL-Transaktionen und die Tatsache, dass es sich um eine der wenigen noch funktionierenden Anlageklassen auf dem Immobilienmarkt handelt, bedeutet, dass sich Restrukturierer und NPL-Experten nach einer langen Durststrecke auf ein lebhaftes Geschäft freuen dürfen. Traditionelle Immobilieninvestoren werden sich noch eine Weile gedulden müssen, aber auch der klassische Transaktionsmarkt wird wieder aufleben. Einige Investoren werden die unvermeidlichen Preisabschläge hinnehmen und ihre Objekte verkaufen, andere werden die sich bietenden Chancen ergreifen. Bis dahin lohnt es sich jedoch, einen Blick auf die NPLs zu werfen und von vergünstigten Akquisitionen zu profitieren.

Gastautor: Alexandre Grellier, CEO, Drooms

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