Erste Leitzinssenkung in den USA frühestens Ende des Jahres

Die Weltordnung ist fragil. Zahlreiche Konflikte überschatten das Geschehen im laufenden Jahr und sind übergeordnet. Natürlich beschäftigt uns die Inflation auch weiterhin, zumal sich die Kerninflation als sehr hartnäckig erweist. Liegt der Zinsgipfel dies- und jenseits des Atlantiks bereits hinter uns? Was ist von China wirtschaftlich zu erwarten? Darüber, und welche Funktion Anleihen im Portfolio übernehmen könnten, sprach Chefredakteur Alexander Heftrich in Hamburg mit Felix Herrmann, Chefvolkswirt der ARAMEA Asset Management AG.
19. Juni 2023
Felix Herrmann, Chefvolkswirt der ARAMEA Asset Management AG

Die Weltordnung ist fragil. Zahlreiche Konflikte überschatten das Geschehen im laufenden Jahr und sind übergeordnet. Natürlich beschäftigt uns die Inflation auch weiterhin, zumal sich die Kerninflation als sehr hartnäckig erweist. Liegt der Zinsgipfel dies- und jenseits des Atlantiks bereits hinter uns? Was ist von China wirtschaftlich zu erwarten? Darüber, und welche Funktion Anleihen im Portfolio übernehmen könnten, sprach Chefredakteur Alexander Heftrich in Hamburg mit Felix Herrmann, Chefvolkswirt der ARAMEA Asset Management AG.

INTELLIGENT INVESTORS: Mit Blick auf einige Aktienindizes könnte man meinen, sämtliche Sorgen und Negativmeldungen seien verschwunden. Mehr Schein als Sein?
Felix Herrmann: Tatsächlich könnte dieser Eindruck entstehen. Das Bündel von negativen Nachrichten, die die Stimmung der Marktteilnehmer eintrüben, ist hingegen nicht verschwunden. Der Ukraine-Krieg tobt weiter, die Inflation ist zwar zurückgekommen, aber noch nicht in dem Maße, wie viele sich das erhoffen. Trotzdem hat sich seit Oktober vergangenen Jahres das Börsenklima verbessert; gespeist wesentlich durch die Meinung, dass es in den USA, aber auch in Europa nicht zu einer harten Rezession kommt. Die Wiedereröffnung des chinesischen Markts hat auch dazu beigetragen. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass monetäre Bremsmaßnahmen erst mit einer zeitlichen Verzögerung konjunkturell wirken. Die Rezessionsgefahr ist nicht verflogen – wir werden einen Abschwung Ende 2023/Anfang 2024 sehen.

II: Wirtschaftsabschwung/Rezession. Das lässt aufhorchen. Welche Aspekte sprechen aktuell dafür?
Herrmann:
Die Rezession, wie stark sie auch ausfällt, wird ihren Ursprung in den USA nehmen. Insofern lohnt der Blick auf die dortige Entwicklung. Zum einen sehen wir eine inverse Zinskurve, die in der Vergangenheit immer eine Rezession angezeigt hat. Hinzu treten eine rückläufige Geldmenge und eine deutlich verminderte Kreditgewährung der Banken bei gleichzeitig niedrigerer Nachfrage der Unternehmen. Das in Summe dürfte auf eine kommende Rezession hinweisen.

II: Das würde dann wiederum Auswirkungen auf die US-Notenbankpolitik haben. Ein Ende des Zinsanhebungszyklus, gar Zinssenkungen?
Hermann:
Die US-Inflation ist im Rückwärtsgang, jedoch erweist sich besonders die Kerninflationsrate bei zuletzt 5,5 % als hartnäckig. Zu beachten ist, dass Basiseffekte die allgemeine Teuerungsrate in den Bereichen Energie und Nahrungsmittel drückten. Eine wirklich nachhaltige Entspannung bei der Kerninflation lässt jedoch noch auf sich warten. Insofern könnte der Leitzins noch einige Zeit ausreichend restriktiv bleiben und auf hohem Niveau verharren, um die Inflation zu senken. Hinzu kommt ein nach wie vor sehr robuster Arbeitsmarkt. Die Löhne blieben zuletzt unverändert hoch, und auch die Arbeitslosenquote sank im April wider Erwarten. Eine erste Leitzinssenkung erwarte ich frühestens Ende des Jahres.

II: Und in Europa?
Herrmann:
Die Inflation in der Eurozone ist immer noch viel zu hoch. Die EZB muss die Zinsen daher wohl noch bis in den Sommer hinein anheben. Allerdings werden die Auswirkungen der restriktiven Geldpolitik auch hier bei uns erst ab Jahresende 2023 so richtig zu spüren sein. Zinssenkungen erwarte ich erst spät im Jahresverlauf 2024.

II: Noch einmal kurz zurück zur Notenbankpolitik. Im Frühjahr gab es die ersten Pleiten bei US-Regionalbanken. Sehen wir eine größere Bankenkrise?
Herrmann:
Natürlich gleicht der Kampf gegen die hohe Inflation dies- und jenseits des Atlantiks einem Ritt über der Rasierklinge. Nachhaltig hohe Zinsen gefährden die Finanzmarktstabilität. Dass in den USA einige Regionalbanken wackeln, ist aber nicht auf Bonitätsprobleme der Institute zurückzuführen. Es sind die massiven Abflüsse von Einlagen und somit Liquiditätsprobleme, welche die einzelnen Banken in Schieflage bringen. Insofern sehen wir eine Vertrauenskrise, keine eigentliche Bankenkrise.

II: Stehen die Banken im Vergleich zu 2008 heute besser da?
Herrmann: Absolut. Heutzutage haben die Banken eine deutlich stärkere Kapital- und Liquiditätsausstattung. Zudem hat man deutliche Fortschritte auf der Kostenseite erzielt.

II: Wenn wir über die globale Wirtschaftsentwicklung sprechen, kommen wir an China, der großen Konjunkturlokomotive, nicht vorbei. Greift uns das Reich der Mitte wieder „unter die Arme“?
Herrmann:
Chinas Wirtschaft hat sich im 1. Quartal stark entwickelt. Die Vorgabe der Regierung von 5 % Wachstum für das laufende Jahr scheint machbar. Nach der Aufhebung der COVID-19-Beschränkungen füllen sich die Einkaufszentren und Restaurants wieder; der Alltag ist zurückgekehrt. Wermutstropfen bleibt, dass wir nur moderate Spillover-Effekte für Europa erkennen, weil sich vor allem der chinesische Dienstleistungssektor erholt. Zudem ist zu bedenken, dass die insgesamt schwache globale Nachfrage auch in China Bremsspuren hinterlässt.

II: Investoren lechzen nach Rendite. 2022 war mies. Nun stehen Aktienindizes wie der DAX teilweise auf Rekordhochs. Ist hier noch viel Luft nach oben?
Herrmann:
Die Gefahr, dass einem die Aktienmärkte vom aktuellen Niveau aus nach Norden weglaufen, ist aus meiner Sicht eher gering. Perspektivisch rate ich eher zu einer defensiven Positionierung, beispielsweise sind Versorger- oder Dividendentitel interessant. In wirtschaftlich eher ungemütlichen/ schwächeren Zeit lohnt auch immer ein Blick auf Qualitätsaktien von fundamental starken Unternehmen, die sich vergleichsweise robuster zeigen. Zumal sowohl in den USA als auch in Europa eine Rezession droht.

II: Abseits der Aktien locken auch Anleihen wieder mit Rendite.
Herrmann: Absolut. Lange Zeit war mit Anleihen nichts zu verdienen. Seit der Zinswende im vergangenen Jahr ist das anders. Inzwischen gibt es wieder recht gute Renditen. Bei Staatsanleihen genauso wie bei Bonds, die von Unternehmen begeben wurden. Wir würden allerdings ein Übergewicht von Investment-Grade Unternehmensanleihen (IG) unter den derzeitigen wirtschaftlichen Bedingungen empfehlen. Nachranganleihen sind Hochzinsanleihen aufgrund des steigenden Ausfallrisikos vorzuziehen.

II: Das Rentensegment scheint sowieso (sehr) attraktiv zu sein.
Herrmann: Ja, und doch möchte ich einen Aspekt hervorheben. Viele Marktteilnehmer gehen davon aus, dass sie die Duration im Portfolio angesichts der inversen Zinskurve weiterhin kurzhalten sollten. Ein Trugschluss. Vielmehr macht es Sinn, die Duration zu erhöhen und sich bereits jetzt gute Renditen bei länger laufenden Anleihen zu sichern. Sonst schaue ich womöglich in einem Jahr bei Wiederanlage in die Röhre. Das Wiederanlagerisiko ist aktuell durchaus hoch.

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