Schwellenländer wieder auf Wachstumskurs

28. Juni 2023
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Ob die Corona-Pandemie, die geldpolitische Straffung als Reaktion auf hohe Inflationsraten und ein sich abschwächendes Wachstumsumfeld – in allen drei Fällen haben die Schwellenländer die negativen Effekte vor den entwickelten Ländern zu spüren bekommen. Die gute Nachricht: Auch bei der jetzt anstehenden wirtschaftlichen Erholung haben die Schwellenländer die Nase vorn. Das eröffnet Chancen sowohl auf der Aktien- als auch der Anleihenseite.

Zum ersten Mal seit fast einem Jahrzehnt dürfte das Wachstumsgefälle zwischen den Schwellen- und den Industrieländern zugunsten der Entwicklungsländer zunehmen. Gemäß Berechnungen des Internationalen Währungsfonds dürfte sich das Wachstum in den Industrienationen von 2,7 % im Jahr 2022 auf 1,2 % bzw. 1,4 % in den Jahren 2023 bzw. 2024 verlangsamen. Im Gegensatz dazu dürfte das Wachstum in den Schwellenländern von 3,9 % im Jahr 2022 auf 4,0 % im Jahr 2023 und 4,3 % im Jahr 2024 steigen. Mit anderen Worten: Während sich die Prognosen für das weltweite Wirtschaftswachstum aufgrund des Krieges in der Ukraine, den Nachwirkungen der Pandemie und den Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation insgesamt verschlechtern, dürften aus unserer Sicht die Schwellenländer bereits ab der zweiten Hälfte des Jahres 2023 in eine Phase der wirtschaftlichen Erholung eintreten – vorausgesetzt, es kommt nicht zu einer größeren globalen Rezession.

Geldpolitische Lockerung trägt zu Wachstum bei
Ein Grund für das stärkere Wachstum in den Emerging Markets ist, dass der Höhepunkt der Inflation erreicht wurde und sich der geldpolitische Straffungszyklus in vielen Schwellenländern deshalb seinem Ende nähert. Nach einem stetigen Anstieg von Ende 2021 bis Mitte 2022 hat die Headline-Inflation im Sommer 2022 sowohl in den Schwellenländern als auch den meisten Industrienationen ihren Höhepunkt erreicht. Seitdem ist in den Schwellenländern ein deutlicher Rückgang sowohl der Gesamt- als auch der Kerninflation zu beobachten. Da Lebensmittel und Energie in den Emerging Markets einen größeren Anteil an der Inflation haben als in den Industrieländern, erwarten wir dort für die kommenden Quartale einen noch schnelleren Inflationsabbau. Die Zentralbanken der Schwellenländer stehen entsprechend kurz davor, ihre Geldpolitik zu lockern. Wir rechnen damit, dass einige Schwellenländer, die die Zinsen sehr aggressiv erhöht hatten, bereits Mitte 2023 mit Zinssenkungen beginnen werden.

Zuletzt hat auch das Ende von Chinas Null-COVID-Politik die allgemeinen Wachstumsaussichten der Schwellenländer gestärkt, da das Land der größte Abnehmer von Rohstoffen und der größte Handelspartner der meisten anderen Schwellenländer ist.

Bankensektor in den EM besser aufgestellt als in den USA
Ein Wiederaufflammen der Bankenkrise bereitet uns derzeit keine Sorgen. Die Schwellenländer sind bislang von den Turbulenzen im Bankensektor kaum berührt worden. Dennoch beobachten wir die Situation weiterhin genau. Unser Augenmerk liegt dabei unter anderem auf den Exporten aus Schwellenländern. Sollten sich die finanziellen Bedingungen in den USA in Zukunft stark verschärfen und die US-Importnachfrage nachlassen, dürften auch die Exporte der Schwellenländer zurückgehen. Länder, die besonders stark vom Handel mit den USA abhängig sind, wie z. B. Mexiko, wären wahrscheinlich am stärksten betroffen. Auch die Kapitalflüsse haben wir im Blick, denn eine höhere Risikoaversion könnte die Kapitalströme in die Schwellenländer abschwächen. Dafür gibt es jedoch derzeit kaum Anzeichen, zumindest wenn man die Entwicklung an den Devisenmärkten betrachtet. Viele Schwellenländerwährungen sind gegenüber dem US-Dollar sogar stärker geworden, seit die Silicon Valley Bank ihren Abwärtsweg begann.

Insgesamt ist das globale Bankensystem aus unserer Sicht weiterhin gut kapitalisiert und die Zentralbanken haben angedeutet, künftig früher eingreifen zu wollen, um Finanzinstituten Liquidität zur Verfügung zu stellen und Sorgen um eine Ansteckung zu minimieren. Zudem haben die Banken in den Schwellenländern Lehren aus vergangenen Krisen gezogen und Fortschritte bei der aufsichtsrechtlichen Überwachung gemacht. In Verbindung mit ihrer – relativ zu den USA gesehen – gesunden Bilanzstruktur haben sie sich deshalb bisher als widerstandsfähig erwiesen. Mit Ausnahme von Taiwan weisen alle Bankensektoren der Schwellenländer eine höhere Kernkapitalquote auf als der Bankensektor der Vereinigten Staaten. Gleichzeitig ist das Verhältnis von Investments (z. B. in US-Staatsanleihen) zu Vermögenswerten bei den Banken in den Schwellenländern – mit Ausnahme von Brasilien – niedriger als in den Vereinigten Staaten.

EM-Aktien bieten historisch günstige Einstiegschancen
Welche Chancen bieten sich vor diesem Hintergrund auf der Aktienseite? Die Aktien von Schwellenländern zählen derzeit zu den am stärksten fehlbewerteten Anlageklassen und haben eines der attraktivsten Einstiegsniveaus überhaupt erreicht. In den letzten Jahren ist viel Kapital aus den Schwellenländern abgeflossen, und weite Teile der Assetklasse sind unterbewertet. Dabei verfügen viele Titel über attraktive Finanz-Kennzahlen, wie Eigenkapitalrendite, freie Cashflow-Rendite und Dividendenrendite.

Angesichts der positiven Wachstumsaussichten dürften Schwellenländeraktien bei den Bewertungen aufholen. Wir glauben, dass der potenzielle Anstieg der Rentabilität der Schwellenländer, bei dem sich der Abstand der Eigenkapitalrendite der Schwellenländer gegenüber den Industrieländern verringert, auch eine Verringerung des Bewertungsabschlags gegenüber den Industrieländern rechtfertigen könnte.

Zudem haben sich Schwellenländeraktien in den letzten 20 Jahren als Assetklasse weiterentwickelt. Die Liquidität hat sich erhöht und das Interesse der Anleger ist gestiegen. Die demografische Entwicklung und die Urbanisierung sorgen für langfristigen Rückenwind, der das Wachstum der Anlageklasse beschleunigen könnte. Mit einer wachsenden Mittelschicht geht ein jüngerer, zunehmend gebildeter Verbraucher einher, der neue Technologien schneller annimmt.

EM-Anleihen profitieren von geldpolitischer Lockerung
Auf der Anleiheseite wirkt sich insbesondere die bevorstehende geldpolitische Kursänderung aus. In der Vergangenheit sind zu diesem Zeitpunkt im geldpolitischen Zyklus, an dem die Zinsen noch hoch waren, überdurchschnittliche Renditen bei festverzinslichen Wertpapieren zu verzeichnen gewesen. Sobald sich eine Phase stark restriktiver Geldpolitik dann jedoch ihrem Ende genähert hat, ist es in der Regel zu bedeutenden Rückgängen der Anleiherenditen gekommen. Die aktuelle Situation dürfte unserer Meinung nach für die Schwellenländer jedoch etwas anders sein, da ihre Ausgangssituation mit gewichteten durchschnittlichen Leitzinsen von rund 8 % noch extremer ist. Länder wie Brasilien, Mexiko, Chile, Uruguay, Kolumbien und Ungarn werden wahrscheinlich alle von zweistelligen Ausgangswerten aus mit Zinssenkungen beginnen. Das heißt, sobald die Lockerungszyklen beginnen, könnten wir Zinssenkungen großen Ausmaßes sehen, möglicherweise um 100 Basispunkte oder mehr.

Chancen bei ausgewählten EM-Staatsanleihen
Die fundamentalen Entwicklungen in den einzelnen Ländern sind unterschiedlich, was zu einem hohen Maß an Differenzierung zwischen den Märkten und ausgewählten Chancen führt. Die meisten Emittenten mit einem BB-Rating und besser dürften aus unserer Sicht von ihren starken Bilanzen und soliden Fundamentaldaten profitieren. Zu Letzteren gehören sich verbessernde Haushaltsdefizite, eine niedrige Verschuldung und komfortable Reserven.

Bei der Positionierung konzentrieren wir uns in erster Linie auf Anleihen mit Qualität, das heißt solche mit einem BB-Rating und höher, sowie auf lokale Zinspositionierungen in den Märkten, in denen wir Spielraum für eine Lockerung sehen. Chancen sehen wir insbesondere bei bestimmten Staatsanleihen mit BB-Rating, die eine attraktive Mischung aus hohem Carry und Bilanzstärke bieten. Dazu gehören aus unserer Sicht Serbien, die Dominikanische Republik und die Elfenbeinküste. Zinsseitig bieten sich uns eine Reihe attraktiver idiosynkratischer Gelegenheiten, vor allem in den Hochzins-Segmenten von Ländern wie Südafrika, Mexiko und Brasilien. Bei den Währungen gehen wir sehr selektiv vor und konzentrieren uns auf Bereiche, die eine attraktive Risikoprämie bieten.

Fazit
Historisch günstige Einstiegsniveaus und anhaltende Marktineffizienzen machen Schwellenländer-Aktien reif für attraktive Renditen durch aktives Management. Gleichzeitig dürften aus unserer Sicht sowohl EM-Aktien als auch ‑Anleihen von dem sich verbessernden Wachstumspfad der Schwellenländer profitieren.

Autor: James Donald
Leiter der Emerging Markets-Plattform
Lazard Asset Management

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