Gebot der Verhältnismäßigkeit

Die Fragen werden immer drängender: Stehen der Shutdown, also das beinahe vollständige Herunterfahren unserer wirtschaftlichen Aktivitäten, die zu befürchtenden Kosten für unsere Volkswirtschaft und die Konsequenzen für jeden einzelnen von uns in einem angemessenen Verhältnis zum bislang nur vermuteten Erfolg? Wie genau definieren wir in diesem Kontext „Erfolg“? Beruhen die getroffenen Maßnahmen auf einem ausreichenden Fundament bezogen auf das, was wir wissen? Ein Offener Brief an die Deutsche Bundesregierung, verfasst vom Ethikverband der Deutschen Wirtschaft (EVW) e.V.
9. April 2020
Dr. Irina Kummert Präsidentin 
Ethikverband der deutschen Wirtschaft e.V.

Die Fragen werden immer drängender: Stehen der Shutdown, also das beinahe vollständige Herunterfahren unserer wirtschaftlichen Aktivitäten, die zu befürchtenden Kosten für unsere Volkswirtschaft und die Konsequenzen für jeden einzelnen von uns in einem angemessenen Verhältnis zum bislang nur vermuteten Erfolg? Wie genau definieren wir in diesem Kontext „Erfolg“? Beruhen die getroffenen Maßnahmen auf einem ausreichenden Fundament bezogen auf das, was wir wissen? Ein Offener Brief an die Deutsche Bundesregierung, verfasst vom Ethikverband der Deutschen Wirtschaft (EVW) e.V.

Der Gedanke ist nicht neu — schon Aristoteles hat in seiner Nikomachischen Ethik dem Konzept der Verhältnismäßigkeit eine zentrale Bedeutung für das Verständnis von Gerechtigkeit und Gleichheit zugewiesen. Im Vordergrund steht dabei die Überlegung, dass eine Handlung nur dann angemessen ist, wenn widerstreitende Interessen oder Werte ausreichend abgewogen worden sind. Für Aristoteles gehören zu einem glückseligen Leben sowohl äußere Güter wie Geld und Ehre im Sinne von Erfolg, als auch innere Güter wie Gesundheit. Erst die Kombination aus beidem ergibt für ihn ein lebenswertes Leben. Wir tun derzeit so, als müsste wir uns entscheiden: Entweder Leben oder Öffnen der Betriebe. Letztlich aber gehen wir noch viel weiter: Wir verrechnen Leben gegen wirtschaftliche Existenzen und damit Leben gegen Leben.

Das Gebot der Verhältnismäßigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Rechtsstaatsprinzips. Verhältnismäßigkeit ist dann gegeben, wenn jede Maßnahme, die unsere Grundrechte beeinträchtigt, nachweislich in einem statthaften öffentlichen Interesse, insofern erforderlich und geeignet im Sinne von angemessen ist. Inhärenter Bestandteil dieses Prinzips ist immer auch der Ermessensspielraum desjenigen, der die Maßnahme anordnet. Unserer Bundesregierung dezidiert vorzuwerfen, dass sie diesen Ermessensspielraum ausgenutzt oder fehlerhaft ausgeübt hat, ist angesichts dessen was auf der anderen Seite der Waagschale liegt, nämlich der Anspruch, Menschenleben schützen zu wollen, schwierig.

Schwierig insbesondere deshalb, weil jetzt, ex ante, also unter Unsicherheit, über etwas entschieden werden muss, was wir noch nicht abschließend einschätzen können. Der deutsche Ethikrat hat in seiner jüngsten Stellungnahme bezogen auf die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Konsequenzen für unsere Gemeinschaft den Begriff der „Tragik“ formuliert und damit gleichzeitig festgestellt, wir seien grundsätzlich einem allgemeinen Lebensrisiko ausgesetzt, das wir anerkennen, das wir akzeptieren müssen. Es ist richtig, dass wir regelmäßig Risikoabwägungen treffen und letztlich damit umgehen müssen, dass Unsicherheiten im Gegensatz zu den meisten Risiken nicht messbar, nicht allokierbar und damit nicht greifbar sind. Wenn wir das Etikett der Tragik akzeptieren, dann akzeptieren wir zugleich etwas Unabänderliches, Schicksalhaftes, für das wir scheinbar alternativlos einen hohen Preis bezahlen müssen.

Die Initiatoren dieses Schreibens geben zu bedenken, dass die Konsequenz daraus Resignation bedeuten und als Flucht vor der Übernahme oder gar als Delegation von Verantwortung an eine „höhere Macht“ interpretiert werden kann. Wir stellen fest, dass es im Angesicht unzähliger Menschen, die sich um ihre wirtschaftliche Existenz sorgen, Aufgabe, ja Verpflichtung ist, den Versuch zu unternehmen, das scheinbar Unausweichliche abzuwenden. Es gilt daher, auch unter erschwerten Bedingungen unserem Leben, im aristotelischen Sinne verstanden als eine Einheit von Ehre im Sinne von wirtschaftlichem Erfolg und (sic!) Gesundheit, wieder Raum zu geben.

Wir plädieren daher dafür, den Menschen mehr Eigenverantwortung zu übertragen und dem Vorbild unseres Nachbarlandes Österreich folgend nach Ostern die Betriebe unter Einhaltung der Abstandsregeln wieder zu öffnen.

Foto: Dr. Irina Kummert, Präsidentin Ethikverband der deutschen Wirtschaft e.V. — © Ethikverband der Deutschen Wirtschaft (EVW) e.V

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