35.000 Windräder – Die Energieunabhängigkeit wird ein Kraftakt

Die Energieversorgung von Russland unabhängig zu machen, wird eine gewaltige Aufgabe. Doch die Chancen, dass Deutschland und Europa den Willen und die finanziellen Ressourcen dafür aufbringen, waren noch nie wo groß wie in diesen Tagen.
11. März 2022
Foto: © Spacekraft - stock.adobe.com

Die Energieversorgung von Russland unabhängig zu machen, wird eine gewaltige Aufgabe. Doch die Chancen, dass Deutschland und Europa den Willen und die finanziellen Ressourcen dafür aufbringen, waren noch nie wo groß wie in diesen Tagen.

Als Reaktion auf den Überfall auf die Ukraine durch Russland wird der Ruf laut, lieber heute als morgen auf russisches Gas, Erdöl und Kohle zu verzichten. Doch so legitim diese Forderung aus moralischer Sicht auch sein mag: Die Abhängigkeit von Russlands fossilen Brennstoffen kann nur nach und nach reduziert werden. Eine schnelle Beendigung des Imports würde mit erheblichen finanziellen und gesellschaftlichen Kosten einhergehen, denn es mangelt schlichtweg an alternativen Ressourcen und technischen Möglichkeiten.

Knapp 47 Prozent der Kohle, 41 Prozent des Gases und 27 Prozent des Erdöls werden aus Russland bezogen[1]. Nicht zuletzt in Deutschland ist Russland der wichtigste Lieferant fossiler Brennstoffe.

Der Verzicht auf russische Energieträger wird teuer 

Eine Abkopplung eines der weltweit größten rohstoffexportierenden Länder und ein Umschwenken auf andere Anbieter benötigt Zeit und kann nur mit steigenden Preisen einhergehen. Zusätzlich müssten Teile der Energieinfrastruktur neu ausgerichtet werden. Das gilt vor allem bei einer Abkopplung Europas und Deutschlands vom russischen Erdgas.

Über Pipelines bezog Europa 2020 rund 168 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Der Bau neuer beziehungsweise der Ausbau bestehender Pipelines zur Erhöhung des Volumens aus anderen Versorgungsgebieten ist aufgrund der Kosten und der benötigten Zeit keine Alternative. Eine Substitution durch britisches, norwegisches und niederländisches Gas, das zusammen 78 Prozent des in Europa (ohne Russland) geförderten Gases ausmacht, ist unrealistisch, da die Produktion seit Jahren stagniert und eine Kapazitätsausweitung kaum noch möglich ist.[2]

Der Ausbau von LNG geht eigentlich in die falsche Richtung

Eine Möglichkeit, das russische Pipeline-Gas zu kompensieren, wäre die Lieferung von verflüssigtem Gas (LNG[3]) aus anderen Ländern. 2021 wurden 115 Milliarden Kubikmeter LNG nach Europa importiert – mit einem Anteil von 26 Prozent waren die USA der größte Lieferant, es folgt Katar mit 24 Prozent. Russland steuerte 20 Prozent (23 Mrd. m³) des LNG bei, auch diesen Anteil gälte es durch andere Anbieter zu decken.[4]

Deutschland hat bislang keine eigenen Kapazitäten für die Anlandung von LNG[5], und es wird voraussichtlich bis 2026 dauern, bis die beiden angekündigten Terminals an der deutschen Nordseeküste in Betrieb gehen können. Bis dahin findet die Entladung im Ausland, insbesondere in den Niederlanden und in Belgien, statt, wobei deren Pipelinekapazitäten nicht ausreichen, um kurzfristig signifikant mehr Gas nach Deutschland zu transportieren.

Ohnehin laufen Investitionen in Erdgas-Pipelines und LNG-Terminals dem Ziel der EU zuwider, bis 2030 die CO2-Emissionen um 55 Prozent zu reduzieren. Erdgas und LNG können deshalb nur eine Zwischenlösung sein, bis Deutschland und Europa ihren Bedarf durch nachhaltigere Energiequellen decken können.

Erneuerbare Energien müssen massiv ausgebaut werden

Die Erneuerbaren Energien hatten 2020 einen Anteil von 50,3 Prozent und 2021 von 45,8 Prozent an der Stromerzeugung in Deutschland.[6] Es ist blauäugig, anzunehmen, dass ein schneller und massiver Ausbau zur Kompensation russischer fossiler Rohstoffe möglich ist. Ein kleines Zahlenbeispiel mag dies verdeutlichen: 2020 wurde in Deutschland Erdgas mit einem „Energiegehalt“ von ca. 941 Terawattstunden verbraucht, etwa 546 Terawattstunden davon waren Importe aus Russland.[7] Demgegenüber stand eine Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen in Höhe von 242 Terawattstunden. Wollte man das verbrauchte Erdgas durch Strom aus erneuerbaren Energiequellen ersetzt werden, so müsste sich deren Produktion etwas mehr als verdoppeln.

Bereits Anfang 2022, und damit vor der aktuellen Krise, errechnete die Denkfabrik AGORA Energiewende, dass ein jährlicher Zubau von rund 16 Gigawatt an Photovoltaikanlagen und sieben Gigawatt bei Windkraftanlagen notwendig sei, um die Klimaziele des Bundes bis 2030 zu erreichen[8]. Faktisch wurden aber im Durchschnitt der zurückliegenden drei Jahre (2019–2021) nur 4,6 Gigawatt an Photovoltaikanlagen und 1,4 Gigawatt an Windkraftanlagen neu errichtet. Zu dem jetzigen Bestand von etwa 28.300 Windkraftanlagen müssten weitere 35.500 hinzukommen, um russisches Gas theoretisch vollständig über Windkraft kompensieren zu können.[9] Der derzeit herrschende breite gesellschaftliche Konsens sollte dafür genutzt werden, den zu langsamen Ausbau durch die Beseitigung von Investitionshemmnissen zu beschleunigen.

An Wasserstoff führt kein Weg vorbei

Ein Anstieg der volatilen erneuerbaren Energien verlangt auch Speichertechnologien wie insbesondere „grünen“ Wasserstoff, der durch den Einsatz CO2-neutraler Energie hergestellt wird. Doch von den sieben Wasserstoffanlagen, die es 2020 in Deutschland gab, wurde lediglich eine homöopathische Energiemenge von 2,8 Millionen Kilowattstunden in das deutsche Stromnetz eingespeist.[10] Die nationale Wasserstoffstrategie für Deutschland geht davon aus, dass bis 2030 ein Bedarf an grünem Wasserstoff von 90 bis 110 Terawattstunden bestehen wird, für die eine Produktionskapazität erst noch aufgebaut werden muss.

Eine gewaltige Aufgabe und zugleich eine große Chance 

Schon vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine war das Ziel eines klimaneutralen Europas eine enorme Aufgabe; jetzt ist es zum Kraftakt geworden, der erheblicher finanzieller Ressourcen bedarf. Allerdings stieg in den vergangenen Tagen das Bewusstsein, wie bedeutend die Energieunabhängigkeit für Europas und Deutschlands Zukunft ist, und es entwickelt sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens, die Energiepolitik auf ein neues und nachhaltigeres Fundament zu stellen. Dieses Momentum birgt große Chancen und Risiken zugleich.

Gastbeitrag von Axel Drwenski, Head of Research, KGAL 

Alexander Drwenski — Foto: © KGAL

[1] Quelle: Eurostat, Stand 2019, Werte gerundet. Anteil gemessen am Gewicht (Erdöl und Kohle) sowie Volumen (Gas). EU inklusive GB

[2] BP, Statistical Review of World Energy, 2021

[3] LNG steht für “Liquefied Natural Gas“. Dabei wird Erdgas durch Herunterkühlen auf unter ‑162°C verflüssigt. Durch die Verflüssigung wird das Gasvolumen um das 600-Fache verringert. LNG kann durch Tankschiffe transportiert werden, weshalb der Transport aus den Produktionsländern unabhängig von Pipelines ist.

[4] EIA, Stand Februar 2022

[5] BDEW, Februar 2022

[6] Fraunhofer ISE, März 2022

[7] Bundesnetzagentur, Monitoringbericht 2021. Eine genauere Abgrenzung zwischen „russischem Gas“ und Gas aus anderen GUS-Staaten wird in dem Bericht nicht gemacht (zusammen 590 TWh). Aus anderen Quellen (BP, Statistical Review of World Energy, 2021) ist abzuleiten, dass ca. 93% aus Russland und 7% aus Aserbaidschan importiert werden.

[8] AGORA Energiewende: „Die Energiewende in Deutschland: Stand der Dinge 2021“

[9] Die Berechnung basiert auf einer landgestützten Anlage mit einer Jahresleistung von 15 GWH.

[10] Bundesnetzagentur, Monitoringbericht 2021

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