„Zyklische Wachstumsdelle und handfeste strukturelle Wachstumsschwächen“

2023 ist wiederum ein Jahr der besonderen Herausforderungen. Die Zinswende muss erst verarbeitet werden und gleichzeitig gibt es eine Fülle an geopolitischen Störfeuern. Neben dem Ukraine-Krieg haben sich nun auch noch die kriegerischen Auseinandersetzungen in Israel hinzugesellt. Ein schwieriges Umfeld für Kapitalmarktinvestoren. Zeit für ein Gespräch mit einem Kenner der Finanzindustrie. In Hamburg traf ich Ende Oktober Carsten Mumm, Chefvolkswirt DONNER & REUSCHEL AG. Ein Potpourri an Themen.
9. Januar 2024
Carsten Mumm - Foto: Copyright DONNER & REUSCHEL AG

2023 ist wiederum ein Jahr der besonderen Herausforderungen. Die Zinswende muss erst verarbeitet werden und gleichzeitig gibt es eine Fülle an geopolitischen Störfeuern. Neben dem Ukraine-Krieg haben sich nun auch noch die kriegerischen Auseinandersetzungen in Israel hinzugesellt. Ein schwieriges Umfeld für Kapitalmarktinvestoren. Zeit für ein Gespräch mit einem Kenner der Finanzindustrie. In Hamburg traf ich Ende Oktober Carsten Mumm, Chefvolkswirt DONNER & REUSCHEL AG. Ein Potpourri an Themen.

 INTELLIGENT INVESTORS: Herr Mumm, zuletzt standen einige Notenbankentscheidungen an. Von Ihrer Warte aus, gab es Überraschungen?

Carsten Mumm: Sowohl die EZB als auch die Fed haben wie erwartet abgeliefert bzw. zunächst abgewartet. Etwas überraschend war der Verzicht auf weitere Leitzinsanhebungen durch die Bank of England und die Schweizer Nationalbank. Allerdings bleiben die Äußerungen der meisten Notenbanker noch falkenhaft, man warnt also vor weiterhin bestehenden Inflationsgefahren und baut die Erwartung lange anhaltender Hochzinsphasen auf. Einziger Ausreißer aus der Gruppe der restriktiven Notenbanken der Industrienationen bleibt Japan mit einem weiterhin ultra-expansiven Kurs. Das könnte sich künftig ändern.

II: Was dürfen/sollten Investoren von der EZB bzw. der Fed auf Sicht von drei bis sechs Monaten erwarten?
Mumm: Ich gehe davon aus, dass sowohl in der Eurozone als auch in den USA der Leitzinsgipfel erreicht ist. Zinssenkungen sind zwar noch nicht konkret absehbar, weil die Notenbanken derzeit datenabhängig ihre Geldpolitik ausrichten. Allerdings könnten sie früher kommen als heute allgemein erwartet. Erste Zinssenkungen im Frühjahr sind denkbar, wenn die Konjunktur sich sehr schwach entwickelt und die Inflationsraten entsprechend stärker nachgeben.

II: Lassen Sie uns einen Blick auf die Weltmächte im Westen und Osten werfen. In den Vereinigten Staaten konnte in letzter Sekunde ein Shutdown erneut abgewendet werden. Abgesehen davon, wie wahrscheinlich ist das Szenario eines „Soft Landings“ in den USA?

Mumm: Ich halte eine leichte Rezession in den USA für das wahrscheinlichste Szenario, also zumindest zwei Quartale negativen Wachstums im Laufe des kommenden Jahres. Denn die stark gestiegenen Zinsen am langen Laufzeitenende dürften die Wirtschaft deutlich abbremsen. Hypothekenzinsen von knapp 8 % p. a. würgen den Immobilienmarkt ab. Das dürfte auf den Arbeitsmarkt und den privaten Konsum negativ durchwirken. Zudem ist ein tatsächlicher Shutdown Mitte November nicht auszuschließen.
II: Die pessimistischen Stimmen zur Lage Chinas nehmen zu. Nach Ihrer Wahrnehmung, wie viel Sand ist dort im Getriebe? Mit welchen wirtschaftlichen Konsequenzen muss die Weltgemeinschaft rechnen?

Mumm: China wird nicht mehr die dynamische Wachstumslokomotive sein, wie in den Jahren vor der Corona-Pandemie. Vor allem strukturelle Probleme, wie die ungünstige demografische Entwicklung, die Überkapazitäten im Immobiliensektor und der politische Wille, privatwirtschaftliche Aktivitäten einzudämmen, belasten. Allerdings erzeugen realistische Wachstumsraten von 4 % im Mittel der kommenden Jahre aufgrund der enormen Größe der chinesischen Volkswirtschaft noch immer einen nennenswerten Beitrag zur globalen Wertschöpfung.

II: Ein Land, das Investoren 2022/2023 überrascht hat, war Japan. Der Aktienmarkt wurde „wiederentdeckt“. Welche Gründe machen Sie dafür aus?

Mumm: In Japan besteht die Möglichkeit, erstmals seit Jahrzehnten die bis dato allgegenwärtige Deflationsphase nachhaltig zu verlassen. Das könnte eine höhere Wachstumsdynamik entfachen, beispielsweise durch stärker steigende Löhne und vermehrte Investitionen. Vor allem aber hatten viele japanische Unternehmen seit Jahren keine effiziente Kapitalallokation, die höheren Bewertungen der Aktienmärkte entgegenstand. So wurden auch unrentable Unternehmensteile oder Akquisitionen gehalten, auch weil die Incentivierung des Managements weniger stark am Unternehmensgewinn ausgerichtet war. Eine neue Generation im Management und von der Börse Tokio initiierte Reformen bringen hier neuen Wind.

II: Die Unkenrufe in der deutschen Wirtschaft reißen nicht ab; vom kranken Mann Europas ist wieder die Rede. Ganz generell, wie ist es um Europa als Ganzes und Deutschland im Speziellen im Herbst 2023 bestellt?

Mumm: Deutschland befindet sich in einer zyklischen Wachstumsdelle und hat zudem handfeste strukturelle Wachstumsschwächen. Der Standort verliert laufend an Attraktivität im internationalen Wettbewerb, auch weil die Grundlagen des in den letzten Jahrzehnten erfolgreichen ‚Geschäftsmodells Deutschland‘ gerade alle zeitgleich wegbrechen: günstige fossile Energie aus Russland, die Friedensdividende, funktionierende globale Lieferketten sowie der Vorteil von lohngünstiger Produktion und Absatzmärkten im außereuropäischen Ausland. Europa insgesamt hat zudem das Problem, dass man technologisch den Anschluss verlieren könnte.

II: An welchen Stellschrauben müsste gedreht werden, um volkswirtschaftlich wieder Boden gut zu machen?

Mumm: Die wesentlichen Hintergründe sind hinlänglich bekannt: zu hohe Steuern und Abgaben, teure Energie, langsame und investitionshemmende Bürokratie, teils veraltete Infrastruktur und natürlich der um sich greifende Arbeits- und Fachkräftemangel. Gerade in den letzten Jahren hat sich zudem der Staat immer stärker durch harte Vorschriften in die Privatwirtschaft eingemischt. Diese Wachstumsbremsen muss die Politik lösen. Doch auch Unternehmen und wir Menschen, die gesamte Gesellschaft müssen ihren Anteil zur notwendigen Transformation des Geschäftsmodells Deutschland beitragen. Es geht darum, sehr agil und innovativ zu sein. Wir müssen ausgetretene Pfade verlassen und neue Technologien mit entwickeln und in Geschäftsprozesse implementieren.

II: Zum Schluss – die Bundesregierung will die Aktienrente ausbauen. Was ist von diesen Plänen zu halten?

Mumm: Ein dringend notwendiger und viel zu lang hinausgezögerter Schritt, der allerdings noch viel zu klein ausfällt. Wir müssen die Rente viel schneller auf eine Kapitaldeckung umstellen. Einerseits weil die Demografie uns dazu zwingt. Im Jahr 2050 werden auf einen Rentenbezieher in Deutschland voraussichtlich nur noch 1,5 Erwerbstätige kommen. Die nicht über das Umlageverfahren zu finanzierenden Renten gehen zulasten des Steuerzahlers. Auch deswegen beträgt die implizite Staatsschuld Deutschlands inklusive der schon heute kalkulierbaren Leistungsverpflichtungen aus Sozialleistungen weit mehr als 400 % bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt.

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