EUROPÄISCHE AKTIEN: Defensive Qualitätstitel für erschwertes Marktumfeld

Die Situation in Europa ist paradox: Seit Beginn des Jahres findet technisch gesehen eine Rezession statt – und dennoch verzeichnet der Markt ein moderates Wachstum. Welche Faktoren auf den europäischen Aktienmärkten entscheidend sind, welche Entwicklungen noch auf uns zukommen und ob US-Aktien spannender sind, erläutert Geoffroy Goenen, Head of Fundamental European Equity Management bei Candriam.
26. September 2023
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Die Situation in Europa ist paradox: Seit Beginn des Jahres findet technisch gesehen eine Rezession statt – und dennoch verzeichnet der Markt ein moderates Wachstum. Welche Faktoren auf den europäischen Aktienmärkten entscheidend sind, welche Entwicklungen noch auf uns zukommen und ob US-Aktien spannender sind, erläutert Geoffroy Goenen, Head of Fundamental European Equity Management bei Candriam.

Wider Erwarten verzeichneten europäische Aktien seit Beginn des Jahres einen Aufwärtstrend: Der DAX stieg seit Januar bis Mitte Juni um mehr als 16 %, der Euro Stoxx 50 gewann in der Zeit fast 14 %, der Euro Stoxx 600 zeigte einen Zuwachs von 11 %. Die Performance der Indizes flaute im vergangenen Monat allerdings ab. Zwar gab es durchaus Gewinner: Das enorme Interesse der Anleger an Informationstechnologien, allen voran an Anwendungen der Künstlichen Intelligenz (KI), machte diesen Bereich zum größten Outperformer, und auch Industrie- und Finanzwerte schnitten im breiten europäischen Vergleich besser ab, auch wenn ihr Vorsprung weniger eindeutig war. All dies konnte jedoch nicht die Kurseinbußen wettmachen, die die drei großen Verlierer verursachten: Kommunikationsdienste, Basiskonsumgüter und Versorger.

Wie geht es weiter für europäische Aktien, vor allem angesichts der Tatsache, dass die europäische Kerninflation hartnäckig hoch bleibt und die Europäische Zentralbank (EZB) damit zu einer restriktiven Geldpolitik zwingt? Welche Sektoren sind interessant – und welche dürften in Zukunft enttäuschen? Und sollten Aktieninvestoren lieber auf die andere Seite des Atlantiks in die USA schauen?

Gewinnwachstum trotz leichten Abschwungs
Trotz der Verluste der vergangenen Wochen ist die Gesamtbilanz positiv. Zyklische Konsumgüter konnten seit Beginn des Jahres etwas aufholen – dank des starken Aufschwungs, den die Wiederöffnung des chinesischen Marktes ausgelöst hat. Basiskonsumgüter dürften im Verlauf des restlichen Jahres ebenfalls zusätzlichen Auftrieb erfahren. Denn: Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor angespannt, was für Haushalte ein erhöhtes reales Einkommen bedeutet – auch in der 2. Jahreshälfte 2023. Nach der „technischen“ Rezession zu Jahresbeginn dürfte die Konjunktur in Europa wieder ein moderates Wachstumstempo erreichen. Der Grund: Das zusätzliche Einkommen der Haushalte in Kombination mit dem zuvor Ersparten wird den Konsum anheizen. Gleichzeitig sind die Gaspreise fast wieder auf ein Niveau zurückgesunken, das dem Stand von vor dem Krieg in der Ukraine entspricht. Und auch die Produktionsketten normalisieren sich wieder. Einbrüche in der Kaufkraft werden so absorbiert, ungeachtet der immer noch zähen Kerninflation.

Auch die Gewinne des 1. Quartals 2023 überzeugten, denn das Gewinnwachstum war trotz des Abschwungs in den letzten vier Wochen positiv, da ungefähr 70 % der europäischen Firmen auf dem Stoxx Europe 600-Index die Erwartungen übertroffen haben. Dementsprechend konnten Investoren die zukünftigen Gewinnaussichten nach oben hin anpassen.

In Europa dominieren Abwärtsrisiken – für den Rest von 2023
Dennoch: Die Aussichten für das Wirtschaftswachstum in Europa sind eher durch Risiken geprägt. Das günstige Umfeld, das den europäischen Indizes in der 1. Jahreshälfte zu Gewinnen verhalf, dürfte in der 2. Jahreshälfte weniger Auftrieb erzeugen. Gleichzeitig könnte die anhaltende Inflation die EZB dazu zwingen, die Zinsen weiter anzuheben – mit der möglichen Folge, dass sich die Kreditbedingungen verschärfen und die europäische Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wird.

Dies gilt allerdings nicht langfristig. Bereits für das nächste Jahr gehen die Experten trotz durchwachsener Wirtschaftsdaten von einem zyklischen Aufschwung für europäische Aktien aus. Der Konsens für die Eurozone in den kommenden zwölf Monaten ist ein Gewinnwachstum von fast 5 %. Mit einem erwarteten Kurs-Gewinn-Verhältnis von zwölf Punkten sieht der europäische Aktienmarkt für diesen Zeitraum sehr attraktiv aus. Beim Betrachten der Zwölf-Monats-Kursgewinne ist das Vereinigte Königreich sogar noch attraktiver als die Eurozone. Es ist die einzige Region, bei der man in den nächsten zwölf Monaten von einer Gewinnabschwächung ausgeht, ausgelöst durch eine hohe Rohstoffbelastung.

US-Aktien: Rallye mit hohen Bewertungen
Lohnt sich angesichts dessen ein Blick nach Übersee in die USA? Der Aktienmarkt verzeichnete zuletzt eine Rallye, getragen von qualitativen Wachstumsaktien. Zu den großen Gewinnern gehören neben Informationstechnologie, die – wie auch in Europa – von der Nachfrage der Anleger nach KI beflügelt wird, auch Kommunikationsdienste, zyklische Konsumgüter sowie der Energiesektor. Zu den Verlierern zählen dagegen defensive Bereiche: Basiskonsumgüter, Versorger sowie in geringerem Maße die Gesundheitsversorgung. Auch die Unternehmensgewinne überzeugten: Fast 80 % der Firmen im S&P 500-Index konnten die Gewinnerwartungen schlagen (Quelle: Factset Research). Ähnlich wie in Europa ist dies für die meisten Experten ein Anlass, die Gewinnerwartungen leicht nach oben zu korrigieren. Für die kommenden zwölf Monate geht man von einem Gewinnwachstum von ungefähr 5 % aus.

Der Höhenflug der US-Aktien ist wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass die USA einen rapiden Rückgang des Wirtschaftswachstums vermutlich umgehen können. Im Gegenteil: Das aktuelle makroökonomische Umfeld deutet auf eine langsame und langwierige Entschleunigung hin. Die Federal Reserve (Fed) hat die Bremse angezogen, die Leitzinsen erhöht und damit den nötigen Effekt erzielt – das zeigen aktuelle Wirtschaftsdaten wie der ISM Prices Paid Index, dem zufolge sich die Inflation sukzessive auf die richtigen Bahnen zubewegt. Gleichzeitig stützen die Pandemie-Ersparnisse sowie ein anhaltend dynamischer Arbeitsmarkt, ähnlich wie in Europa, den Konsum. Vergessen ist die Debatte der Demokraten und Republikaner über die Schuldenobergrenze – sie erzeugte nur kurzzeitige Unsicherheit auf den Aktienmärkten.

Ist dies ein Grund, US-Aktien gegenüber europäischen Aktien zu bevorzugen? Amerikanische Aktien befinden sich im Höhenflug, doch die gute Entwicklung sowie der positive Mix von Wachstum und Inflation scheinen bereits eingepreist zu sein. Die Aktienbewertung in den USA befindet sich im 87-Prozent-Perzentil über einen Zeitraum von 20 Jahren – ein Niveau, das angesichts der aktuellen Inflation und der Realzinsen hoch ist. Selbst angesichts der erwarteten Gewinnzuwächse gibt es daher wenig Spielraum nach oben.

Europa attraktiv, Gesundheitssektor am vielversprechendsten
Zu beiden Seiten des Atlantiks scheint eine Rezession gebannt zu sein. Dennoch bleibt das Wachstum schwach, während die Kerninflation sich nur allmählich abschwächt. Angesichts dessen dürften sowohl die EZB als auch die Fed in der 2. Jahreshälfte an einer straffen Geldpolitik festhalten. Das positive Szenario einer „weichen Landung“ haben die Finanzmärkte bereits eingepreist und rechtfertigen damit die gute Performance seit Jahresbeginn. Das bedeutet aber auch, dass die Bewertungen vergleichsweise hoch sind, insbesondere in den Vereinigten Staaten. In der 2. Jahreshälfte dürften positive Überraschungen seltener werden. Die Zeit des gleichmäßigen Wachstums unabhängig vom Sektor ist definitiv vorbei, und das Markumfeld wird aufgrund der erwarteten Entwicklung bei der Kreditvergabe und des verstärkten Wettbewerbs komplexer. Daher müssen Anleger Fingerspitzengefühl beweisen und bei ihren Investments genau hinschauen. Vor allem bei riskanten Anlagen ist Vorsicht angebracht.

Stattdessen lenken wir unseren Fokus auf defensive und qualitativ hochwertige Aktien, auch wenn ihre Performance in letzter Zeit eher geschwächelt hat. Denn: Für den Fall, dass eine anhaltende Inflation die Wirtschaften schwächen sollte, dürfte sich ihre Preissetzungsmacht als großer Vorteil erweisen. Anleger, die in europäische Aktien investiert sind, sollten bei ihren Engagements daher selektiv bleiben und vor allem bei riskanten Investments wie Energie und Kommunikationsdienstleistungen, aber auch hochriskanten Investmentbanken Vorsicht walten lassen. Unter den defensiven Sektoren sind vor allem Gesundheit und Basiskonsumgüter vielversprechend. Als vorteilhaft dürften sich auch Investments in gut bewertete Privatkundenbanken erweisen.

Außerdem lohnt sich stets ein Blick auf langfristige Themen aus den Bereichen Energiewende und Automatisierung. Diese Art von Titeln dürfte weniger von den Schwankungen der Konjunkturzyklen betroffen sein und profitiert gleichzeitig von strukturellen geopolitischen Trends wie der Dekarbonisierung und dem Umweltschutz, der Repatriierung gewisser Aktivitäten, um die Staatssouveränität zu stärken, sowie der Entwicklung Künstlicher Intelligenz.

Autor: Geoffroy Goenen
Head of Fundamental European Equity Management
Candriam

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