Corona-Pandemie und die Folgen

Die Aktienmärkte führen beinahe ein Eigenleben; die Kurse klettern nach oben. Davon abgesehen sind die wirtschaftlichen Folgen der weltweiten Corona-Pandemie noch nicht bezifferbar. Was taugen Corona-Anleihen? Wie sieht es mit Merkel/Macron-Vorschlag aus? Die INTELLIGENT INVESTORS-Chefredaktion sprach zu einzelnen Aspekten mit Guillaume de Martel, Head of Lyxor Deutschland und Torsten Reidel, Geschäftsführer von Grüner Fisher Investments, um ihre Einschätzung.
2. Juni 2020
Deutschland, Frankreich,

Die Aktienmärkte führen beinahe ein Eigenleben; die Kurse klettern nach oben. Davon abgesehen sind die wirtschaftlichen Folgen der weltweiten Corona-Pandemie noch nicht bezifferbar. Was taugen Corona-Anleihen? Wie sieht es mit Merkel/Macron-Vorschlag aus? Die INTELLIGENT INVESTORS-Chefredaktion sprach zu einzelnen Aspekten mit Guillaume de Martel, Head of Lyxor Deutschland und Torsten Reidel, Geschäftsführer von Grüner Fisher Investments, um ihre Einschätzung.

 

INTELLIGENT INVESTORS: Was denken Sie über den Merkel/Macron-Vorschlag?

Guillaume de Martel: Das von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Hilfspaket könnte ein erster Schritt in Richtung eines auf Gegenseitigkeit beruhenden europäischen Haushalts sein. Für die Unterstützung der Konjunktur sollen 750 Milliarden Euro mobilisiert werden. Verteilt über sieben Jahre wäre das im Vergleich zu dem, was wir in Ländern wie den Vereinigten Staaten und Japan sehen, nicht massiv. Umso stärker jedoch ist die politische Botschaft dahinter: Es ist notwendig und entscheidend, dass die europäischen Regierungen eine geschlossene politische Antwort geben, nicht nur, um die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-Krise abzumildern, sondern auch, um das Vertrauen in die Europäische Union wieder zu stärken. Das Hilfspaket bzw. der Wiederaufbauplan bedarf noch der einstimmigen Unterstützung durch die 27 EU-Staaten. In seiner jetzigen Form dürfte der aktuelle Vorschlag allerdings zweifellos Gegenstand heftiger Diskussionen auf dem nächsten Europäischen Rat sein. Dabei wären die als Subventionen für die bedürftigsten Länder vorgesehenen 500 Milliarden Euro der wohl umstrittenste Teil des Projekts, denn sie würden durch gemeinsame Schulden finanziert. Um hier voranzukommen, sollte die Frage nach den Eigenmitteln der Europäischen Kommission beantwortet werden. Steuern auf europäischer Ebene würden den Grundstein für diesen gemeinsamen Haushalt legen, der dann eben nicht nur auf nationalen Beiträgen beruhen würde. Eine gemeinsame Kontrolle der Steuern und Ausgaben könnte unter Umständen die „Sparsamen Vier“ EU-Länder etwas besänftigen, die nicht rückzahlbaren Zuwendungen widersprechen.

Torsten Reidel: Eine wirtschaftliche Erholung der EU wird wahrscheinlich nicht von Corona-Anleihen abhängen. Bei der Umsetzung solcher Pläne ist die EU notorisch langsam, was das Problem der Finanzierung von kurzfristigen Maßnahmen nicht löst.

 

INTELLIGENT INVESTORS: Ist die Reaktion der EZB auf die Pandemie ausreichend? Halten Sie es für notwendig, dass die EZB ihr PEPP-Programm oder ihre Liquiditätsmaßnahmen ausweitet?

de Martel: Auf den ersten Blick scheint die Reaktion der EZB aus zwei Gründen ausreichend. Erstens wegen des beträchtlichen Umfangs (fast 5% des BIP) des 750 Milliarden Euro Pandemie-Notkaufprogramms und zweitens wegen der Flexibilität bei der Mittelverwendung durch eine tolerantere Nutzung des Kapitalschlüssels und der Nichtanwendung ihrer selbst auferlegten Kauflimits. Darüber hinaus könnte das breitere Spektrum an möglichen Papieren, die die EZB im Rahmen des Pandemie-Notkaufprogramms kaufen kann (beispielsweise Unternehmensanleihen nach einem Investment Grade Rating Downgrade, kurzlaufende Unternehmensanleihen (Commercial Papers) oder griechische Staatsanleihen) ein willkommenes Sicherheitsnetz bieten. Im Moment scheint das Programm also ausreichend, wie die engeren Spreads von Staaten und Unternehmen, aber auch das dynamische Wachstum der Bankkredite zeigen. Eine Verschlechterung der Wirtschaftsaussichten würde wahrscheinlich eine Ausweitung der Spreads rechtfertigen. Es könnten auch andere unkonventionelle Mechanismen in Betracht gezogen werden. Die FED ging zum Beispiel so weit, Unternehmensschulden auf dem Primärmarkt zu kaufen oder Geldmarktfonds zurückzukaufen. In Japan ist die BOJ heute ein wichtiger Eigentümer von Aktien-ETFs, aber dies sollte in Europa vorerst hoffentlich nicht auf der Tagesordnung stehen.

Reidel: In erster Linie sind die bisherigen Maßnahmen wichtig, um zeitliche Brücken zu bauen. Aber man sollte generell die Fähigkeiten der EZB nicht überschätzen. In kritischen Situationen ist es häufig der Fall, dass Anleger auf eine Art „Retter“ warten — egal ob Zentralbanken oder Regierungen. Retter waren aber noch nie nötig für Märkte und Wirtschaftskreisläufe, um sich zu erholen.

 

INTELLIGENT INVESTORS: Ist aufgrund der Konjunktur- und Hilfsprogramme mit einem Anstieg der Inflation zu rechnen?

de Martel: Die erste Beobachtung, die man machen kann, ist, dass die unkonventionelle Geldpolitik, die in den Vereinigten Staaten und in Europa nach der Krise von 2008 verfolgt wurde, keine Auswirkungen auf die Inflation hatte. Dasselbe gilt für Japan. In Europa ist der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise unter den 2% geblieben, die die EZB als Referenz nennt — obwohl die Bilanz der Zentralbank auf fast 50% des BIP gestiegen ist. Andererseits führte diese unkonventionelle Liquiditätshilfe zu einem starken Wertanstieg von Finanz- und Immobilienvermögen.

Kurzfristig und trotz der massiven Impulse, die derzeit gegeben werden, erwarten wir, dass die Produktionslücken negativ bleiben und den Inflationsdruck begrenzen werden. Dasselbe erwarten wir für die Arbeitsmärkte, die unter hohen strukturellen Arbeitslosenquoten leiden, insbesondere südlich des Rheins. Wenn wir eine vollständige Monetarisierung der Schulden durch die EZB ausschließen, müsste darüber hinaus der derzeitige sprunghafte Anstieg der Staatsausgaben eines Tages zurückgeschraubt werden. Dies würde eine Anpassung der öffentlichen Ausgaben und/oder höhere Steuern erfordern. Auf längere Sicht könnten jedoch einige strukturelle Veränderungen stattfinden. Der Trend zur Globalisierung ist eine davon: Als Anbieter eines nahezu unbegrenzten Angebots an billigen Arbeitskräften und Gütern stand China bei den deflationären Trends der letzten dreißig Jahre im Mittelpunkt. Dies könnte sich ändern, da die Produktionskosten steigen und die entwickelten Volkswirtschaften sich wieder auf ihre Binnenmärkte konzentrieren könnten. Darüber hinaus halten wir es für möglich, dass die von der Trump-Administration eingeleiteten protektionistischen Maßnahmen und die Gegenreaktion von Peking sowie wahrscheinliche künftige Bewegungen zur Verlagerung bestimmter Aktivitäten in Hochlohnländer der Industrieländer die Inflation anheizen könnten. Wir betrachten dieses Szenario jedoch nicht als Risiko und erwarten nicht, dass die Inflation außer Kontrolle geraten könnte.

Reidel: Es gibt aus unserer Sicht wenig Anzeichen für einen übermäßigen Anstieg der Inflation. Der Lockdown hat der Wirtschaft Liquidität entzogen. Beispielsweise erlitten Hochzinsanleihen einen schweren Schlag, weil Investoren Insolvenzen befürchten. Die meisten Maßnahmen sind einmalige Aktionen, um solche in der Krise entstandenen Liquiditätsengpässe auszugleichen. Auch 2009 und 2011 stieg die Geldmenge kurzfristig um mehr als 20 Prozent an, ohne eine ausufernde Inflation auszulösen. Letzten Endes ist relevant, wieviel der realen Geldmenge auch tatsächlich im Wirtschaftskreislauf ankommt. Die Anleihekaufprogramme der Zentralbanken wirken dem sogar ein Stück weit entgegen. Denn durch die gestiegene Nachfrage sinken die langfristigen Zinsen und somit auch die Risikobereitschaft der Banken bei der langfristigen Kreditvergabe. Mangelndes Kreditvolumen ist häufig eher ein angebotsseitiges Problem. Das war auch schon während des vorangegangenen Bullenmarkts der Fall, als die Zentralbanken trotz massiven Anleiheankäufen ihre Inflationsziele nicht erreichen konnten.

 

INTELLIGENT INVESTORS: Wie sehen Sie die Aktienmärkte angesichts der aktuellen Wirtschaftslage?

de Martel: Nach dem starken Aufschwung seit Mitte März traten risikoreiche Anlagen im Mai auf der Stelle. Auch wenn eine Flut geld- und fiskalpolitischer Anreize die historische Rezession, die sich vor unseren Augen entfaltet hat, zumindest teilweise in den Köpfen der Anleger kompensiert hat, konzentrieren sich die Märkte nun auf die nächsten Schritte. Mit der schrittweisen Aufhebung der Lockdowns können wir nach und nach mehr Klarheit sowohl über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise als auch über einen möglichen Anstieg der Infektionsraten gewinnen. In einer U‑förmigen Erholung — was unser zentrales Szenario ist — sollten sich die Unternehmensgewinne erholen können, was zu einer Verdichtung der Bewertungsmultiplikatoren führen würde. Da die Zinssätze länger auf einem niedrigen Niveau verharren sollten, bliebe die relative Attraktivität von Aktien unbestritten. Die Hauptrisiken ergeben sich aus unserer Sicht aus einem Anstieg der Schuldenquoten und der möglichen Ausfälle in der Unternehmenswelt in den nächsten sechs Monaten. Die Widerstandsfähigkeit der Bilanzen sowie starke Geschäftsmodelle bleiben daher bei der Auswahl unserer Investitionen ein wesentliches Entscheidungskriterium.

Reidel: Die Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität wurde bereits eingeleitet und die Aktienmärkte haben sich seit Mitte März etwas erholt. Doch sie werden weiterhin von einer hohen Volatilität geprägt sein, denn Aktienmärkte blicken immer in die Zukunft. Der entscheidende Faktor dabei ist nicht die Größenordnung einer etwaigen Rezession, sondern die Dauer der wirtschaftlichen Einschränkungen – und da ist noch vieles ungewiss. Gelingt die nahtlose Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Aktivitäten? Droht eine zweite Infektionswelle? Wann kommt der Impfstoff? Rückwärtsgerichtete Wirtschaftsdaten spielen allenfalls eine untergeordnete Rolle. Die Aktienmärkte werden wieder anziehen, lange bevor wirtschaftliche Daten, Corona-Fallzahlen oder ein Impfstoff eine Aufhellung signalisieren. Es gilt nun abzuwarten, wie sich die gesellschaftliche und politische Haltung zu COVID-19 in den nächsten Wochen und Monaten entwickelt. Für investierte Anleger ist es in dieser Zeit enorm wichtig, sich nicht verunsichern zu lassen. Ansonsten besteht die Gefahr, einen großen Teil der Erholungsbewegung zu verpassen. (ah)

Beitragsbild: © bluedesign — stock.adobe.com

 

Foto: Guillaume de Martel (li), Head of Lyxor Deutschland und Torsten Reidel (re.), Geschäftsführer von Grüner Fisher Investments / Fotos: © Lyxor / Grüner Fisher Investments

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