Wenn die Chips ausgehen

Die weltweite Halbleiter-Knappheit gilt oft als kurzfristiges Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage, doch ist sie nicht viel mehr ein Hinweis auf großen Kapitalmangel und eine wesentliche Neuausrichtung der Halbleiter-Industrie? Yan Taw (YT) Boon, Director Research Asia bei Neuberger Berman, gibt einen Überblick.
15. Juni 2021
Computer - Foto: sdecoret

Die weltweite Halbleiter-Knappheit gilt oft als kurzfristiges Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage, doch ist sie nicht viel mehr ein Hinweis auf großen Kapitalmangel und eine wesentliche Neuausrichtung der Halbleiter-Industrie? Yan Taw (YT) Boon, Director Research Asia bei Neuberger Berman, gibt einen Überblick.

Neben der Blockade des Suezkanals durch ein auf Grund gelaufenes Containerschiff, ist die weltweite Halbleiter-Knappheit das Welthandelsthema des Jahres. Für viele ist sie lediglich ein vorübergehendes Phänomen. Es bestehe hohe Nachfrage nach Computern durch die vielen Mitarbeiter im Home-Office und die Automobilindustrie bereite sich auf den Neustart der Wirtschaft vor. Gleichzeitig sei das Angebot zurzeit knapp, weil die Industriearbeiter noch immer unter Pandemiebedingungen arbeiteten oder, etwa in Asien, neue Einschränkungen greifen würden.

All das ist nicht falsch, aber vermutlich nur die halbe Wahrheit. Tatsache ist nämlich auch, dass sich die Branche grundlegend ändert. Nicht mehr nur ausgewählte Sektoren brauchen Halbleiter, sondern fast alle Branchen. Und statt der Konjunktur treiben zunehmend strukturelle Veränderungen die Nachfrage. Die Preismacht der Anbieter ist größer denn je und entlang der gesamten Wertschöpfungskette für Chips ist der Kapitalbedarf enorm.

Ein Problem der Vernetzung

Am lautesten klagte die Automobilindustrie, da die Halbleiterknappheit für Produktionsstopps sorgte. So brauchen Autohersteller eher klassische Chips statt der Hochleistungshalbleiter, die in Mobiltelefonen und Smart Devices verbaut werden. Jedoch haben sich Entwicklung und Investitionen in den letzten Jahren auf Hochleistungschips konzentriert, sodass die Produktionskapazitäten für Automobil-Chips weitestgehend veralten und abnehmen.

Mit anderen Worten: Das eigentliche Problem ist nicht, dass Automobilhersteller keine Chips bekommen. Weitaus schwerwiegender ist, dass die Chiphersteller den Bedarf an Hochleistungstechnologie nicht decken können, obwohl sie auf diesen Bereich einen klaren finanziellen und strategischen Schwerpunkt setzen.

So wird deutlich, wie schnell der Bedarf an Halbleitern in unseren Geräten wächst. Smart Devices werden noch smarter – und selbst Technik wie der Fernseher oder der Kühlschrank gehört immer öfter zu dieser Kategorie.

Mit jeder neuen Generation oder jedem neuen technologischen Meilenstein wächst die Zahl der Transistoren pro Gerät und damit die Rechenkraft der Chips. Jeder Fortschritt erfordert mehr Forschung und Entwicklung, Kapital, Rohstoffe, Ingenieurskunst und letztlich Zeit – im Schnitt zwischen zwölf und 18 Monate. Deshalb können Halbleiterhersteller nicht einfach einen Hebel umlegen, um die Nachfrage der Hersteller nach modernster Technologie zu befriedigen.

In einer zunehmend digitalen und vernetzten Welt führt dies zu sich gegenseitig verstärkenden Rückkopplungen: Jede neue Technologie ermöglicht Innovationen und neue Anwendungen. Das lässt wiederum die Nachfrage nach Chips steigen und bringt die Entwicklung neuer Technologien weiter voran.

Da überrascht es nicht, dass die Kapitalaufwendungen des weltgrößten Chipherstellers TSMC aus Taiwan dieses Jahr wohl um über 50 Prozent steigen werden. Über den Verlauf der kommenden drei Jahre kann mit Investitionen von rund 100 Milliarden US-Dollar gerechnet werden.

Ein Aspekt der nationalen Sicherheit

Während in immer mehr Geräten immer höher entwickelte Halbleiter verbaut werden, machen sich viele Regierungen mehr und mehr Sorgen um um ihre Halbleiter-Lieferketten. Wenn die Produktivität der Industrie nur mit der neuesten Technik in Büros, Fabriken und Lagern gesteigert werden kann, ist ein ausreichender Zugang zu Halbleitern wichtig für die wirtschaftliche Sicherheit eines Landes. Und wenn dann noch fast jedes Gerät zu einem Kommunikationsgerät wird, handelt es sich potenziell um ein Thema nationaler Sicherheit.

Das Ergebnis sind Verbote des Handels mit Chips zwischen einigen Ländern und Unternehmen. Andere Länder wiederum investieren gezielt in inländische Produktion, die mit den führenden asiatischen Produktionsländern – vor allem Taiwan – mithalten soll.

So will US-Präsident Joe Biden im Rahmen seines Infrastrukturprogramms 50 Milliarden US-Dollar für diesen Zweck bereitstellen. Der Halbleiterhersteller Intel will 20 Milliarden US-Dollar in neue Fabriken in Arizona investieren. TSMC und Samsung planen, für mehrere Milliarden US-Dollar ihre Produktionskapazitäten in den US-Bundesstaaten Arizona und Texas auszubauen. Auch die Europäische Union möchte mit ihren Pandemiehilfen eine Verdopplung der Halbleiterherstellung bis zum Jahr 2030 erreichen. Südkorea hat gerade 450 Milliarden US-Dollar für die Herstellung modernster Chips eingeplant und Indien bietet Unternehmen mehr als eine Milliarde US-Dollar, wenn sie vor Ort Halbleiterfabriken bauen. Auch in China ist die Halbleiterherstellung ein wichtiger Teil des neuen Fünfjahresplans.

Auswirkungen auf die Wertschöpfungskette

All dies verändert die Halbleiterbranche massiv. Erstmals seit vielen Jahren haben die Hersteller echte Preismacht. Die wichtigste Veränderung ist aber, dass der Markt immer unabhängiger von der Konjunktur wird. Strukturelle Entwicklungen werden immer wichtiger. Halbleiteraktien werden defensiv.

Da sich die Chipnachfrage nicht mehr nur auf Computer und Autos beschränkt, nimmt die Konjunktursensitivität ab. Hinzu kommt das veränderte Verbraucherverhalten: Früher war Apple das einzige Unternehmen, das mehrjährige Lieferverträge für Chips abschloss. Heute wird dies angesichts der höheren Nachfrage zur Regel.

Man sollte sich vor Augen halten, dass diese Veränderungen nicht nur die Halbleiterbranche und ihre Kunden betreffen. Sie werden Auswirkungen auf die gesamte Wertschöpfungskette für die Chips haben.

Um Halbleiter herzustellen, werden Spezialgeräte benötigt, wie etwa die Lithografie-Technik von ASML und die Technologie von Lam Research für das Ätzen, Abscheiden und Reinigen von Halbleiter-Wafern. Für die Chip-Produktion ist außerdem spezielle Software nötig. Softwarehäuser wie Cadence Design Systems, Synopsys und Siemens Mentor Graphics konzentrieren sich daher auf die Electronic Design Automation (EDA) für diese immer komplexer werdende Arbeit mit den Halbleitern. Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der erwähnten Investitionen solchen Firmen zugutekommt.

Weil nichts auf ewig die Schlagzeilen beherrscht, wird auch die Halbleiter-Knappheit irgendwann in den Hintergrund rücken. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass es sich bei diesem Thema um ein vorübergehendes Phänomen handelt. Die Halbleiter-Knappheit resultiert nicht aus einer kurzfristigen Angebotsknappheit, sondern ist die Folge einer schnellen Digitalisierung und der Weltpolitik. Der wachsende Kapitalbedarf entlang der gesamten Wertschöpfungskette darf als eines der interessantesten Investmentthemen von heute gesehen werden. (ah)

Foto: © sdecoret- stock.adobe.com

 

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