Aufgrund günstiger Bewertungen werden immer mehr Unternehmen aus dem Vereinigten Königreich zum Übernahmeziel. Für den Markt ist das keine gute Nachricht, für die Anleger hingegen schon – ebenso wie zunehmende Aktienrückkäufe.
Britische Aktien sind so unterbewertet wie seit fünfzig Jahren nicht mehr. Das zeigt sich sowohl in absoluten Zahlen als auch insbesondere im Vergleich zum US-amerikanischen Aktienmarkt, der derzeit eine der höchsten jemals beobachteten Bewertungen aufweist. Gleichzeitig hinken Papiere von der Insel bei der Wertentwicklung hinterher: britische Aktien legten 2023 um 7,9 % zu, während der S&P 500 im gleichen Zeitraum um ganze 26,3 % nach oben kletterte.
Es gibt viele Theorien zur Erklärung der schwachen Renditen britischer Aktien. Dazu gehören die Branchenzusammensetzung des Marktes, der Brexit oder politische Unsicherheit. Meiner Meinung nach sind sie aber hauptsächlich auf Kapitalabflüsse zurückzuführen, die unabhängig von der Bewertung eingetreten sind. So hat eine Reihe britischer Pensionsfonds jahrzehntelang nicht nur Aktien verkauft, um Anleihen zu erwerben, sondern auch den Anteil britischer Aktien reduziert.
Ein weiterer Faktor war die Konsolidierung unter den großen Vermögensverwaltern. In der Folge sind viele von ihnen von der regionalen Allokation ihrer Gelder zu globalen Investitionen übergegangen. Da das Vereinigte Königreich im MSCI World derzeit mit 3 % gegenüber den USA mit 70 % gewichtet ist, hat dies auch zu einer Umschichtung von britischen Aktien in US-Papiere geführt. Dies hat ebenfalls dazu beigetragen, dass britische Aktien ungeachtet ihrer Bewertung unablässig veräußert und im Gegenzug US-Aktien ebenfalls ungeachtet ihrer Bewertung kontinuierlich gekauft wurden.
Weist man jedoch auf die sehr niedrigen Bewertungen des britischen Aktienmarktes hin, lautet die erste Frage häufig: „Wird sich daran nochmal etwas ändern?“ Das ist eine sehr berechtigte Frage. Ich persönlich kann mir nur schwer ein Szenario vorstellen, in dem all das Geld, das das Vereinigte Königreich verlassen hat, plötzlich wieder zurückfließt. Es gibt jetzt aber zwei Entwicklungen, durch die der britische Aktienmarkt trotzdem wieder Auftrieb bekommen könnte.
Übernahmen – gut für den Kurs, schlecht für den Markt
Der erste Faktor sind zunehmende Unternehmensübernahmen: Die unaufhaltsamen Verkäufe britischer Aktien haben die Bewertungen auf ein niedriges Niveau gedrückt. Ausländische Unternehmen nutzen nun die Gelegenheit, Firmen in Großbritannien zu günstigen Preisen zu erwerben. In den letzten zehn Jahren wurden durchschnittlich 40 britische Unternehmen pro Jahr übernommen. Im Jahr 2023 waren es 64 (siehe Grafik) und in diesem Jahr könnten es noch mehr werden. Bis Ende Februar lagen bereits Angebote für Currys, Direct Line, Wincanton, Redrow, LXI REIT und Spirent vor. Britische Anleger müssen akzeptieren, dass ausländische Unternehmen die Vorteile von Bewertungen auf solch niedrigen Niveaus nutzen werden.
Grafik: Übernahmen am britischen Aktienmarkt
Quellen: Redwheel, Factset. Stand: 31. Dezember 2023
Die oben dargestellten Informationen dienen nur zur Veranschaulichung. Sie sind nicht als Empfehlungen oder Ratschläge gedacht und sollten auch nicht als solche interpretiert werden.
Die Aktienkurse von Unternehmen steigen bei der Ankündigung eines Übernahmeangebots immer eindeutig an. Daher werden sich Unternehmensübernahmen kurzfristig positiv auswirken. Langfristig stehen die Chancen auf eine Wertsteigerung für die Anleger ebenfalls gut.
Für die Londoner Börse und Großbritannien insgesamt werden sie jedoch unserer Meinung nach auf lange Sicht negative Konsequenzen haben, da die Zahl der in London notierten Unternehmen zurückgehen wird. Dies wird nicht nur die Liquidität im Markt verringern, sondern hat möglicherweise auch Auswirkungen auf die Steuereinnahmen des Landes.
Aktienrückkäufe als Kurstreiber
Durch Aktienrückkäufe könnten sich ebenfalls Impulse ergeben: Treffen mit den Vorstandsvorsitzenden unserer Portfoliounternehmen waren in den letzten Jahren eine ziemlich deprimierende Erfahrung. Viele von ihnen sind der Meinung, dass sie ihr Unternehmen sehr gut führen – aber dennoch zusehen müssen, wie der Aktienkurs weiter fällt. Wir raten dazu, den niedrigen Aktienkurs nicht persönlich zu nehmen. Vielmehr sollte man ihn zum Vorteil der Aktionäre des Unternehmens nutzen, indem man Aktien zu niedrigeren Bewertungen zurückkauft. Denn dies sorgt in den meisten Fällen für Wertsteigerungen. 50 % der britischen Unternehmen im MSCI UK Index haben diese Chance erkannt und in den letzten zwölf Monaten Aktien zurückgekauft. Das ist der höchste Prozentsatz aller Märkte weltweit.
Anleger übersehen oft, wie wertsteigernd Aktienrückkäufe sein können. Das Bekleidungsunternehmen Next plc ist ein Aushängeschild für eine erfolgreiche Kapitalallokationspolitik, die Aktienrückkäufe einsetzt. Das Unternehmen hat seit dem Jahr 2000 zwei Drittel seiner ausgegebenen Aktien zurückgekauft und seinen Anlegern damit eine Gesamtrendite von jährlich 16 % gebracht – bei einem Umsatzwachstum von lediglich 5 % pro Jahr. Ein vielleicht noch spektakuläreres Beispiel für die Wirkung von Aktienrückkäufen ist British American Tobacco. Im Jahr 2000 stellten die Anleger fest, dass es mit den Wachstumsaussichten des Unternehmens aufgrund des Rückgangs der Raucherzahlen schlecht aussieht. Zwischen 2000 und 2016 stieg der Umsatz des Unternehmens lediglich um 2 % pro Jahr. Dennoch bescherte es seinen Aktionären eine Gesamtrendite von 22 % jährlich und einen Anstieg des Aktienkurses von 3 auf 50 Britische Pfund. Auch wenn Aktienrückkäufe oft erst mit Verzögerung Wirkung zeigen: Sie können einen starken Effekt haben, sobald die Marktteilnehmer merken, was vor sich geht.
Mehr Chancen als Risiken für Europa
Auf dem europäischen Aktienmarkt finden sich einige Parallelen zu den Entwicklungen in Großbritannien, denn auch hier besteht viel Anlagepotenzial durch unterbewertete Aktien. Und zwar in denselben Branchen Energie, Finanzen, Automobile und Werkstoffe.
Natürlich würde sich ein durch Fusionen und Übernahmen schrumpfender britischer Aktienmarkt nicht nur auf die Londoner Börse negativ auswirken, sondern auch den europäischen Aktienmarkt an sich schwächen. Dennoch sehe ich in der aktuellen Unterbewertung europäischer Titel eher eine Chance als ein Risiko. Viele Anleger sind sehr stark auf den US-Aktienmarkt fixiert und entsprechend hoch investiert, weil er 70 % des MSCI World ausmacht. Im Vergleich dazu ist der Allokationsanteil europäischer Aktien deutlich geringer. Darüber hinaus sind dieselben Anleger stark in den großen US-Technologiewerten engagiert. Genau wie im Jahr 2000 sind sie so fasziniert vom Wachstumspotenzial der US-Technologieunternehmen, dass sie einige der echten Schnäppchen ignorieren. Ich denke, dass sich die Allokationen in Richtung der am stärksten unterbewerteten Märkte der Welt verlagern werden. Dazu gehören Großbritannien und das europäische Festland.
Bewertung als bester Indikator
Langfristig ist die Aktienbewertung meiner Meinung nach der beste Indikator für künftige Renditen. Daher sollten Anleger sich nach den am stärksten unterbewerteten Papieren umsehen. Europa scheint insgesamt günstig und es gibt einige echte Schnäppchen in unbeliebten Brachen wie Fluggesellschaften und Automobilwerte, Banken und Versicherungen sowie in den Bereichen Energie und Werkstoffe. Darüber hinaus sollten Investoren bedenken, dass Dividenden, Dividendenwachstum und Aktienrückkäufe die Gesamtrendite stark beeinflussen – und diese Faktoren daher im Blick haben.
Autor: Ian Lance, Co-Leiter des Value & Income-Teams von Redwheel und Portfoliomanager des Redwheel UK Value Fonds