Türkei: Orientiert sich das Land wieder nach Westen?

In der Türkei werden am 14. Mai ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt. Was der Wahlausgang für die Wirtschaft des Landes und seine geopolitische Ausrichtung bedeuten könnte, analysiert Timothy Ash, Senior-Stratege für Schwellenländer-Staatsanleihen bei BlueBay, RBC BlueBay Asset Management: 
8. Mai 2023
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In der Türkei werden am 14. Mai ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt. Was der Wahlausgang für die Wirtschaft des Landes und seine geopolitische Ausrichtung bedeuten könnte, analysiert Timothy Ash, Senior-Stratege für Schwellenländer-Staatsanleihen bei BlueBay, RBC BlueBay Asset Management: 

„Der aktuelle türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und die aus sechs Parteien bestehende Oppositionskoalition haben sehr unterschiedliche Visionen für die Wirtschaft des Landes.

Erdogan bietet mehr von seiner unorthodoxen Geldpolitik an, die in den vergangenen zehn Jahren zu Stopp-and-Go-Wirtschaftszyklen mit nahezu ständigem Verkaufsdruck auf die türkische Lira und damit einer anhaltend hohen Inflation – derzeit mehr als 50 Prozent – geführt hat. Aufgrund seiner Abneigung gegen Zinserhöhungen musste er auf verzerrende Maßnahmen zur Sicherung der Finanzstabilität sowie Kapital- und Marktkontrollen zurückgreifen, um die Währung zu schützen und die Teuerung zu bekämpfen. All dies hat sich negativ auf das Geschäftsumfeld ausgewirkt, weshalb sich ausländische Investoren zurückgezogen haben. Das wiederum hat die Produktivität und das langfristige Wachstum beeinträchtigt. Die Fortsetzung dieser Politik mit begrenzten Devisenreservepuffern birgt das Risiko einer systemischen Krise sowie einer Vertrauenskrise in die Lira und die Banken des Landes.

Die Opposition verspricht dagegen eine Rückkehr zu einer orthodoxen Wirtschaftspolitik mit einer Normalisierung der Leitzinsen und einem flexiblen Wechselkurs. Sie hat angekündigt, Erdogans Geflecht aus marktverzerrenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu zerschlagen, staatliche Institutionen wie die türkische Zentralbank zu stärken und das Land wieder für ausländische Investoren zu öffnen. Kurzfristig wird sich das Wachstum verlangsamen müssen, um die Inflation einzudämmen, das hohe Leistungsbilanzdefizit von rund 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu verringern und die große Außenfinanzierungslücke des Landes von mehr als 230 Milliarden US-Dollar zu schließen. Die Aussicht auf ein nachhaltigeres Wachstum könnte aber das Interesse ausländischer Investoren an dem Land wieder wecken. Unter Erdogan ist der Bestand ausländischer Portfolioinvestitionen von einem Höchststand bei knapp über 130 Milliarden US-Dollar vor einem Jahrzehnt auf derzeit weniger als 30 Milliarden US-Dollar geschrumpft. Mit der Rückkehr zu einer orthodoxen Geldpolitik könnte ein Großteil davon zurückgewonnen werden. Diese Zuflüsse würden zur Stabilisierung der Lira beitragen. Das würde die Inflation auf einem niedrigeren Niveau verankern und letztlich eine Senkung der Leitzinsen ermöglichen, um das Wachstum anzukurbeln.

Politisches System: autoritär oder liberal?

Die Wahlen werden auch eine Abstimmung über den weiteren politischen Kurs des Landes sein: Steuert das System der Türkei von einer westlichen liberalen Demokratie auf ein autoritäres, zentralisiertes Modell unter Erdogan zu, in dem die Macht auf die Familie konzentriert ist? Die Opposition verspricht eine Rückkehr zu einem pluralistischen Modell, bei dem die Macht des Präsidenten beschränkt wird, und die Wiedereinführung des in den vergangenen zehn Jahren ausgehöhlten stärker parlamentarisch geprägten Systems mit gegenseitiger Kontrolle der Institutionen.

Geopolitischer Kurs: Richtung Westen oder Osten? 

Außerdem geht es bei dieser Wahl um die geopolitische Ausrichtung der Türkei: Unter Erdogan hat sich die Türkei weg von ihren traditionellen westlichen Verbündeten in der Europäischen Union (EU) und der NATO nach Osten orientiert. Er hat unter den autoritären Regimen in Russland und in der Golfregion nach neuen Verbündeten und Finanzierungsquellen gesucht. Diese haben seine Wiederwahl unter anderem durch die Bereitstellung von Devisenswaps für die türkische Zentralbank und Einlagen bei ihr finanziell unterstützt.
Im Ukraine-Krieg hat Erdogan versucht, Russland und den Westen gegeneinander auszuspielen. Außerdem kämpfte er mit harten Bandagen gegen den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens, um die Unterstützung der Wähler im eigenen Land zu gewinnen. Bei der nationalistischen Wählerschaft in der Türkei kommt eine harte Haltung gegenüber dem Westen gut an. Aus unserer Sicht werden die westlichen Staaten die Türkei nach den Wahlen aber zu einer Entscheidung drängen, wo sie in dem nunmehr hegemonialen Kampf zwischen den USA und ihren Verbündeten sowie China und Russland steht.

Die Opposition hat deutlich gemacht, dass sie sich im Falle eines Wahlsiegs wieder nach Westen orientieren wird, während sie in Fragen von nationalem Interesse – Mittelmeerraum, Syrien und Kurdenfrage – ein gewisses Maß an Unabhängigkeit bewahrt. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sich die Beziehungen zu Russland abkühlen werden. Im Falle eines Wahlsiegs der Opposition rechnen wir mit einem Vorstoß des Westens, die Beziehungen zur Türkei wieder zu intensivieren. Die EU wird möglicherweise neue, günstigere Zollvereinbarungen anbieten. Außerdem würde das bessere Verhältnis wohl neue westliche Finanzierungen, Portfolio- und Direktinvestitionen mit sich bringen.

Letztendlich denke ich, dass Erdogan erkennen wird, dass das westliche Bündnis die beste Sicherheitsgarantie für die Türkei darstellt und erwarte Kompromisse in der Frage des schwedischen NATO-Beitritts. Die Beziehungen zwischen dem Westen und einer weiteren Erdogan-Regierung aber würden schwierig bleiben, was wiederum die dringend benötigten Investitionen bremst. Das würde Erdogans wirtschaftliche Probleme noch verstärken und eine systemische Krise wahrscheinlicher machen.“

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