Stagflation – wiederholen sich die 1970er Jahre?

Die kräftige Belebung der Wirtschaftsleistung wurde durch die raschen und beispiellosen geld- und fiskalpoliti-schen Maßnahmen nach dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie angetrieben. Versorgungsengpässe und steigende Energiepreise beschleunigten jedoch die weltweite Inflation. Die Kombination aus langsamerem Wachstum und Inflationsdruck hat zu der Vermutung geführt, dass die Weltwirtschaft vor einer Stagflation stehen könnte –ähnlich wie in den 1970er Jahren. Dr. Andrea Siviero, Investment Strategist bei ETHENEA Independent Investors S.A.,erklärt wie hoch die Chancen hierfür sind.
21. März 2022

Glaubwürdigkeit der Geldpolitik

Zum anderen trugen damals die lockere Politik der Fed und das Fehlen einer klaren Verankerung ihres geldpolitischen Rahmens zum Verlust ihrer Glaubwürdigkeit bei, was die große Inflation der 1970er Jahre verursachte. Das ist heute anders. Seit Anfang der 1990er Jahre haben die Unabhängigkeit der Zentralbanken und die schrittweise Einführung von Inflationszielen die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken bei der Inflationsbekämpfung erheblich verbessert. Im vergangenen November begann die Fed, ihre außerordentlich lockere Politik zurückzunehmen und wurde im Dezember deutlich restriktiver, was auf ein beschleunigtes Normalisierungstempo im Jahr 2022 hindeutet. Trotz der Meinung einiger Ökonomen, die Fed habe zu spät reagiert, demonstriert sie ihre Entschlossenheit, die Verfestigung des Inflationsdrucks zu verhindern. Die jüngste Entwicklung der Inflationserwartungen (gemessen an der 10-jährigen US-Treasury-Inflationserwartung) verleiht der Fed in ihrer Rolle als Inflationsbekämpferin zusätzliche Glaubwürdigkeit.

Inflationärer Kontext

Drittens ist der jüngste Inflationsdruck, wie bereits erwähnt, in erster Linie das Ergebnis der beispiellosen weltweiten politischen Unterstützung in Folge der Pandemie. Die starke Belebung der Wirtschaftstätigkeit, die steigenden Energiepreise und die ungewöhnlichen pandemiebedingten Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage werden wahrscheinlich allmählich abklingen, sobald sich die Weltwirtschaft wieder im Gleichgewicht befindet und die pandemiebedingten Turbulenzen überwunden sind. Jüngste Erhebungen deuten darauf hin, dass die Engpässe bei den Inputs und die Unterbrechungen der Lieferketten ihren Höhepunkt erreicht haben und sich allmählich abschwächen, da die Pandemie zunehmend besser in den Griff zu bekommen ist und die höheren Preise die Investitionen in die Produktionskapazitäten ankurbeln. In einigen Ländern sind die Arbeitsmärkte angespannter, aber es gibt keine eindeutigen Anzeichen dafür, dass der Inflationsdruck generalisierte Zweitrundeneffekte erzeugt und zu weit verbreiteten Lohnerhöhungen führt. Der Arbeitsmarkt dürfte mit der Verbesserung der Gesundheitssituation allmählich wieder ins Gleichgewicht kommen und der Arbeitskräftemangel könnte die Unternehmen sogar dazu zwingen, den Automatisierungsprozess zu beschleunigen. Die Inflation ist aktuell hartnäckiger als noch vor einigen Monaten erwartet und auch wenn das kurzfristige Inflationsumfeld höchst ungewiss ist, deutet es auf keine Wiederholung der großen Inflation der 1970er Jahre hin. Auch die langfristige Inflationsdynamik gibt diesbezüglich keinen Anlass zur Sorge. Die geldpolitische Normalisierung wird zur Eindämmung der Inflation beitragen, indem sie die Gesamtnachfrage bremsen, während die allmähliche Beseitigung von Angebotsknappheit und Engpässen dazu beitragen dürfte, den von den Kosten ausgehenden Inflationsdruck zu verringern.

Erhebliche Herausforderungen am Horizont

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es wohl nicht zu einer Stagflation wie in den 1970er Jahren kommen wird. Dennoch sollten die aktuellen Risiken nicht unterschätzt werden. Die Inflationsrisiken tendieren nach oben und könnten sich konkretisieren, wenn das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage länger als erwartet anhält. Je länger die Angebotsunterbrechungen andauern, desto größer ist das Risiko, dass die kostengetriebene Inflation zu Zweitrundeneffekten und einem stärkeren strukturellen Inflationsdruck führt, der das Wirtschaftswachstum einschränkt. Rasch steigende Inflationserwartungen und das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale könnten die großen Zentralbanken zu einer übermäßig starken Straffung der Geldpolitik veranlassen, was zu einer erhöhten Marktvolatilität führen und ihre Volkswirtschaften zurück in die Rezession führen könnte.

Der Konflikt in der Ukraine und die daraus resultierenden Sanktionen der USA und Europas erhöhen den Druck auf die Rohstoff- und Energiepreise und werden zu einem langsameren Wirtschaftswachstum führen. Die Weltwirtschaft wird von einem kombinierten Angebots- und Nachfrageschock getroffen, der das Wirtschaftswachstum schwächen und den Inflationsdruck weiter verstärken wird. Daher sind die Stagflationsrisiken erheblich erhöht. Die Zentralbanken werden mit einem noch schwierigeren Balanceakt konfrontiert und müssen ihre aggressiven Normalisierungspläne wahrscheinlich sorgfältig überdenken.

Eine sanfte Landung der Wirtschaft im Jahr 2023 wird eine Gratwanderung. Sie erfordert eine Kombination aus moderatem Wirtschaftswachstum, einer schrittweisen Rückkehr der Inflation zum Zielwert und einer allmählichen geldpolitischen Anpassung. Die Zentralbanken müssen flexibel bleiben, die politischen Maßnahmen müssen abhängig von den Daten ergriffen, gut kommuniziert werden und verhältnismäßig sein, um einen Rückfall in das verhaltene Wachstum vor der Pandemie zu vermeiden.

Autor: Dr. Andrea Siviero
Investment Strategist

ETHENEA Independent Investors S.A.

Foto: © Ray – stock.adobe.com

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