Kaum pendeln sich die Inflationsraten in Europa wieder um die magische Zwei-Prozent-Marke ein, scheinen sich die Zentralbanken schon wieder um deflationäre Tendenzen zu sorgen. Auf der letzten Pressekonferenz der EZB behauptete deren Präsidentin Christine Lagarde, dass die EZB kurz davor stehe, der Inflation „den Garaus zu machen“.
Weil auch andere Zentralbanken folgten, zielt die aktuelle Fiskal- und Geldpolitik weltweit auf eine Ankurbelung der Wirtschaft ab. So könnten in den kommenden Monaten und die Wetten auf „Reflation“ statt Inflation das nächste große Thema sein, das die Finanzmärkte prägt.
Wir geben zu bedenken, dass sich – im Gegenteil – die Ursachen für die Inflation verstärken könnten, namentlich die Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt und die expansive wirtschaftspolitische Ausrichtung in den USA und China. Wenn dies der Fall ist, könnte sich die derzeitige geldpolitische Lockerung als unangebracht erweisen. Vier Beobachtungen, die diese Befürchtung stützen:
Erstens:
Die Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt haben selbst während einer Phase des mäßigen Wirtschaftswachstums in Europa angehalten. Die Alterung der Bevölkerung und der politische Widerstand gegen Einwanderung haben das Arbeitskräfteangebot belastet. Darüber hinaus hat die COVID-Krise den Arbeitsmarkt strukturell verändert, und der Arbeitskräftemangel hat in den Branchen zugenommen, die keine Möglichkeiten für die Arbeit im Homeoffice bieten können. Die meisten Unternehmen berichten trotz des seit fast zwei Jahren unterdurch-schnittlichen Wachstums in Europa weiterhin von Schwierigkeiten bei der Einstellung von Personal und von Lohndruck. Ihre Strategie, deshalb Arbeitskräfte quasi zu horten, hat aber als Kehrseite die schwachen Produktivitätssteigerungen in Europa.
Darüber hinaus prägt die Wahrnehmung von Kaufkraftverlusten aufgrund der in der Vergangenheit erhöhten Inflation weiterhin die Lohnforderungen der Arbeitnehmer. Es ist daher kein Zufall, dass die Inflation bei den arbeitsintensiven Dienstleistungen im Euroraum bei fast 4 % und im Vereinigten Königreich bei 5 % liegt. Es gibt also noch viel zu tun, bevor „der Inflation das Genick gebrochen“ wird. Das bedeutet nämlich, die Lohn-Preis-Dynamik im Inland zu ändern. Siehe USA: Das starke Wachstum dort hat sicher damit zu tun, dass unbesetzte Stellen mit Einwanderern besetzt werden. Der Zustrom von Arbeitsmigranten hat die Lage auf dem Arbeitsmarkt erheblich entspannt. Die Arbeitslosenquote ist auf ihr langfristiges Gleichgewicht von etwa 4 % zurückgekehrt. Auch die Produktivitätsgewinne haben die Lohnstückkosten stärker gedämpft.
Zweitens:
Die globalen Warenpreise können eigentlich nur steigen, solange die Handelskriege weitergehen. Weltweit hat sich geradezu eine Art Zoll-Epidemie entwickelt. US-Präsident Joe Biden setzte neue Beschränkungen für den Handel mit Spitzentechnologien (insbesondere Halbleitern) mit China durch und erhöhte gleichzeitig die Zölle auf chinesische Industriegüter im Zusammenhang mit der Energiewende. Europa hat die Zölle auf chinesische Produkte, darunter auch Elektrofahrzeuge, erhöht. Darüber hinaus wird die Europäische Union um 2028 herum eine Grenzausgleichssteuer einführen, um das Programm NextGen EU zu finanzieren. Die chinesischen Überkapazitäten stellen für die europäische und US-amerikanische Fertigung in vielen Branchen eine existenzielle Bedrohung dar. Die Regierungen der USA und Europas werden daher die heimischen Produzenten schützen. Die unmittelbare Folge ist, dass der Übergang zu einem saubereren Energiemix für die Welt ohne Zugang zu billigen chinesischen Technologien erheblich teurer sein wird. Dies wird in Zukunft wohl kaum mehr, wie das tatsächlich lange der Fall war, zu einer importierten Disinflation führen. Und China wird unweigerlich mit der Einführung eigener Zölle auf im Ausland hergestellte Waren zurückschlagen.
Drittens:
Kriege wirken sich inflationsfördernd aus, da sie die Lieferketten belasten. Russlands Invasion in der Ukraine hat die Lebensmittel- und Energiepreise für eine Weile in die Höhe getrieben. Das derzeitige Überangebot an Öl, das dazu beigetragen hat, dass die aktuellen Konflikte im Nahen Osten sich nicht stark auswirkten, wird möglicherweise nicht unbegrenzt anhalten. Schließlich war es die iranische Produktion, die in den letzten Jahren eine Schlüsselrolle dabei gespielt hat, den Markt ins Gleichgewicht zu bringen. Die Ölproduktion der USA scheint ihr Maximum erreicht zu haben. Darüber hinaus hat Russland Energie zwar zunächst als Waffe gegen Europa eingesetzt, doch das Problem in Zukunft wird sein, dass die Sanktionen die russischen Energiekapazitäten mit der Zeit einschränken werden.
Viertens:
Peking setzt endlich voll auf Konjunkturmaßnahmen. Insgesamt werden die Haushaltsdefizite weiter steigen. Auf diese Weise kann die Regierung in Peking die überschüssigen Ersparnisse Chinas abschöpfen und eine Fortsetzung der Kapitalabflüsse aus China im Wert von schätzungsweise 50 bis 100 Mrd. US-Dollar pro Monat verhindern. Das exportorientierte Wachstumsmodell ist zunehmend durch neue Handelssanktionen und Zölle aus dem Westen gefährdet. Auf der Binnenseite kann der Immobiliensektor, der bis zu einem Viertel der chinesischen Wirtschaft ausmachte, nur schrumpfen. Immobilienentwickler stehen weiterhin unter starkem finanziellem Druck und die Zahlungsausfälle werden weiter steigen. Die schrumpfende Bevölkerung Chinas verschärft das Problem des Überangebots an Wohnraum nur noch.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es schwieriger sein wird, der Inflation den Garaus zu machen, als die Zentralbanker glauben wollen. Die Folgen für die Finanzmärkte können komplex sein. Der Vorstoß zu mehr Wachstum in China könnte in erster Linie chinesischen Aktien zugutekommen und spielt dem chinesischen Verbraucher in die Hände. Zu dieser Gruppe gehören eine Reihe europäischer Aktien aus dem Luxus- und Nicht-Basiskonsumgütersektor. Doch der stärkere Wettbewerb durch chinesische Unternehmen und die potenziell asymmetrischen Auswirkungen von Zöllen auf die Unternehmensgewinne lassen Raum für Enttäuschungen. Eine Zeit lang werden die Märkte den chinesischen Behörden vielleicht einen Vertrauensvorschuss geben, doch die Abwärtsrisiken könnten erheblich sein.
Der US-Aktienmarkt wird sich aufgrund der höheren Produktivität und der anhaltenden Aktienrückkäufe weiterhin überdurchschnittlich entwickeln. Der US-amerikanische Sonderfall wird die globalen Aktienkurse weiter in die Höhe treiben, bis die Bewertungsmultiplikatoren nicht mehr mit der zugrunde liegenden Rentabilität übereinstimmen. Darüber hinaus werden die Zölle die Probleme der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt nur verschärfen und die Lohnforderungen erhöhen. Die Arbeitnehmer werden versuchen, Kaufkraftverluste auszugleichen und sich der Ersetzung von Arbeitskräften durch Kapital zu widersetzen, selbst in Regionen, in denen die Produktivitätssteigerungen nur langsam voranschreiten. Irgendetwas muss nachgeben. Und es spricht einiges dafür, dass es die Gewinnmargen der Unternehmen sein werden.
Die Anleihemärkte sind auf eine längere Phase selbsttragender Inflation nicht vorbereitet. Die Breakeven-Inflationsraten in Europa liegen auf Sicht von zehn Jahren unter 2 %. Diese Prognose scheinen zumindest die Goldhändler nicht zu teilen, da die Preise auf über 2.700 $ pro Unze steigen. Im Nachhinein betrachtet ist der Versuch der Kryptowährungen, das anachronistisch anmutende Edelmetall als Inflationsabsicherung zu ersetzen, gescheitert. Vor diesem Hintergrund müssen inflationsgebundene Anleihen einen gewissen Wert haben, wenngleich die Verschwendungssucht der öffentlichen Hand auch die Realzinsen aus Sorge um die Kreditwürdigkeit der Staaten in die Höhe treiben könnte. Der Marktzugang wird für Kreditnehmer von entscheidender Bedeutung sein, und wir können nicht ausschließen, dass es irgendwo zu einem weiteren „Liz Truss“-Moment kommt. Zumindest sollte man mit steileren Rendite- und Spreadkurven und einem Abschlag auf langlaufende Staatsanleihen in Form höherer Laufzeitprämien rechnen. Unternehmensanleihen sind besser positioniert, um in einem Umfeld mit etwas höherer Inflation zu navigieren.
Autor: Axel Botte, Chefstratege von Ostrum Asset Management, einer Tochter von Natixis IM