Quo vadis, Europa? In den vergangenen Wochen stand der europäische Kontinent oftmals im Zentrum der Betrachtung. Die Wahlen zum Europäischen Parlament, gefolgt von den Urnengängen in Großbritannien und Europa. Wie steht es um den Kontinent? Welche Chancen ergeben sich in diesem Zusammenhang für gemischte Portfolios? Tobias Schmidt, Leiter Multi Asset bei Union Investment, im Gespräch.
INTELLIGENT INVESTORS: Herr Schmidt, rückblickend standen die USA und die dortige robuste Wirtschaftsentwicklung im bisherigen Jahresverlauf eindeutig im Fokus. Mit Blick auf die jüngsten politischen Geschehnisse und das Stimmungsbarometer für die Eurozone, wie sehen Sie Europas Zukunft für die kommenden Monate?
Tobias Schmidt: Europa wird von hausgemachter politischer Unsicherheit, vor allem dem Ergebnis der Wahlen in Frankreich, belastet. Insgesamt bedeuten die Herausforderungen in Frankreich auch ein Problem für die gesamte Eurozone. Wir rechnen dadurch mit noch weniger Dynamik. Frankreich und die EU werden in allen volkswirtschaftlichen Belangen unter zusätzlichem Druck stehen. Die Schuldentragfähigkeit, das Wachstumspotenzial und die Geschwindigkeit der EU-Integration könnten leiden. Nach dem zweiten Wahlgang in Frankreich ist aber das größte Abwärtsrisiko ausgeblieben, nämlich dass Parteien von den Rändern des politischen Spektrums durchregieren können. Deshalb ist es auch an den Börsen zu keinen Ansteckungseffekten gekommen. Die Risikoaufschläge für französische Staatspapiere dürften aber erhöht bleiben.
II: Woher könnte Rückenwind für die europäische Wirtschaft kommen?
Schmidt: Wir gehen davon aus, dass die Erholung der Realeinkommen und – mit den erwarteten Zinssenkungen der EZB – erschwinglichere Kredite den privaten Konsum und die Investitionstätigkeit ankurbeln werden. Weil der Lagerabbau zum Ende kommt und sich die Auftragslage stabilisiert, dürfte sich die Industrie aus der Rezession kämpfen. Auch die anhaltende Sogwirkung der USA auf den Außenhandel hilft. Deutlich geringere Impulse erwarten wir hingegen aus China. Bis zum Jahresende sehen wir im Euroraum eine langsame Konjunkturbelebung, ungeachtet der politischen Kräfteverschiebung in Frankreich.
II: Deutschland galt als Konjunkturlokomotive, nun rangieren wir hierzulande eher am Tabellenende Europas. Wie würden Sie den volkswirtschaftlichen Zustand charakterisieren?
Schmidt: Die hohe Abhängigkeit von der Exportwirtschaft ist in Zeiten geopolitischer Spannungen eine Achillesferse der deutschen Wirtschaft. Auch strukturell bestehen in Deutschland Hemmnisse wie hohe Energiepreise, eine verschlechterte Wettbewerbsfähigkeit, Defizite bei Infrastruktur und Digitalisierung sowie eine ungünstige Demographie. Das begrenzt das wirtschaftliche Wachstumspotenzial. Eine Verbesserung ist allemal möglich, braucht aber Zeit und verlässlichere Rahmenbedingungen.
II: Politische Börsen haben kurze Beine. Inwiefern bieten Ihnen die Entscheidungen, beispielsweise in Großbritannien, Frankreich, dennoch Raum für aktives Management?
Schmidt: Politische Börsen schaffen zumindest taktische Opportunitäten für aktive Investoren. Die Entwicklung im Vorfeld des ersten Wahlgangs in Frankreich hat dies bestätigt. Die Aufregung legte sich schnell. Wir halten es aber für möglich, dass sich der traditionell vorhandene Bewertungsabschlag von europäischen Vermögenswerten im internationalen Vergleich zeitweise noch ausdehnen könnte. Die Risikoprämien für europäische Assets könnten infolge der politischen Unsicherheit temporär steigen. Mit einem aktiv gemanagten Multi-Asset-Portfolio lassen sich solche Phasen nutzen. So bieten aktuelle Rücksetzer bei den Aktienkursen solider Unternehmen mit profitablen Geschäftsmodellen und positivem Ausblick Renditechancen für Anleger. Angesichts der angespannten geopolitischen Lage sind wir überzeugt, dass mit einer guten Diversifikation der Anlagen damit verbundene Risiken abgeschwächt werden können. Darum behalten europäische Assets grundsätzlich ihren Stellenwert.
II: Wo erkennen Sie, fokussiert auf Europa, attraktive Chancen am Anleihe- bzw. Aktienmarkt?
Schmidt: Die fundamentale Ausgangslage verbessert sich, weil sich die globale Wachstumsschere bis zum Ende dieses Jahres weiter verengen dürfte. In der Eurozone erwarten wir eine leichte Erholung. Darüber hinaus rechnen wir mit einer moderaten Senkung der Leitzinsen durch die US-Notenbank Fed und die EZB. Das spricht für weiteren Rückenwind für die Aktienmärkte. Viele große Konzerne der Eurozone sind nur bedingt abhängig vom Heimatmarkt und profitieren etwa von der robusten Konjunktur in den USA. Auf dem europäischen Anleihemarkt sehen wir attraktive Renditen bei europäischen Investment-Grade-Unternehmensanleihen. Aus Chance-Risiko-Überlegungen heraus bleiben Covered Bonds interessant.
II: Welche Bedeutung messen Sie der Bonität bei Festverzinslichen bei?
Schmidt: Sie spielt eine entscheidende Rolle in der Risikosteuerung. Nach wie vor bietet der Anleihemarkt interessante Renditen auch in Bereichen mit geringerem Risiko. Angesichts der erhöhten Unsicherheit raten wir generell zu mehr Vorsicht bei Emittenten mit einem schwachen Finanzprofil.
II: Diversifikation ist Trumpf. Welche Veränderungen haben Sie als Leiter Multi Asset in jüngerer Zeit vorgenommen?
Schmidt: Mit einem breit aufgestellten Multi-Asset-Portfolio sollten Anleger gegen mögliche Verwerfungen gut gewappnet sein. Aufgrund der erhöhten Unsicherheit in Europa im Zusammengang mit der Europawahl und dem drohenden Stillstand in Frankreich haben wir die Gewichtung hier trotz interessanter Bewertung etwas abgebaut. Im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) ist nach der Rally vieler KI-naher Aktien eine Verschnaufpause angezeigt. Die Marktentwicklung in der Breite dürfte von der anhaltend guten Gewinndynamik geprägt bleiben. Wie stark das auf die Kurse wirkt, werden wir sehen, wenn nach den Sommerferien wieder mehr Liquidität in den Markt zurückkehrt. Bis dahin haben wir das Risiko in den Portfolios etwas reduziert.
II: Zum Abschluss: Speziell Edelmetalle hatten bis dato ein gutes Jahr. Inwiefern spielen diese bei Ihrer Portfoliosteuerung eine Rolle?
Schmidt: Im derzeitigen Spannungsfeld zwischen Konjunkturbelebung, baldigen Zinssenkungen, langsamer Disinflation und zugleich gestiegener geopolitischer Unsicherheit sind Rohstoffe unverzichtbar. Angesichts großer struktureller Trends wie der grünen Transformation und der Digitalisierung ist eine erhöhte Beimischung von Industriemetallen im Portfolio mehr als sinnvoll. Die Edelmetallpreise wiederum sollten durch Zinssenkungen unterstützt werden.