Inflation, Zinsen, Wachstum und Corporate Governance – der Beginn einer neuen Ära in Japan

Die Deflationsspirale. Nach dem Platzen der Immobilienpreisblase und dem folgenden Kurssturz am Aktienmarkt befand sich die Inflationsrate in Japan seit Mitte der 1990er Jahre nahe der Nulllinie. Immer wieder rutschte die Teuerung in den negativen Bereich ab, eine Tendenz, die von Ökonomen gefürchtet wird, denn sie kann sich selbst verstärken und die wirtschaftliche Dynamik abwürgen.
26. Juni 2024
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Die Deflationsspirale. Nach dem Platzen der Immobilienpreisblase und dem folgenden Kurssturz am Aktienmarkt befand sich die Inflationsrate in Japan seit Mitte der 1990er Jahre nahe der Nulllinie. Immer wieder rutschte die Teuerung in den negativen Bereich ab, eine Tendenz, die von Ökonomen gefürchtet wird, denn sie kann sich selbst verstärken und die wirtschaftliche Dynamik abwürgen. 

Wenn Preise fallen, ist es aus Sicht von Verbrauchern sinnvoll, nicht notwendige Ausgaben zeitlich nach hinten zu schieben, um sie später günstiger nachzuholen. Durch die Kaufzurückhaltung geben Preise weiter nach und eine sich selbst verstärkende Spirale beginnt. Entsprechend schwach fielen seit 1990 der Anstieg der Konsumausgaben und die gesamtwirtschaftliche Wachstumsdynamik aus. Zudem kann klassische Geldpolitik über die Steuerung von Leitzinsen im Falle einer Deflation wirkungslos sein, denn selbst die Möglichkeit, sich zu Nullzinsen zu verschulden, würde den konsumdämpfenden Effekt fallender Preise nicht kompensieren. Im Kampf gegen die Deflationsgefahr setzte die japanische Notenbank (Bank of Japan, BoJ) daher schon seit Jahrzehnten auf eine sehr expansive Geldpolitik. Mit dem Amtsantritt von Premierminister Shinzo Abe Ende 2012 und der Einführung der „Abenomics“-Politik, die neben einer weiteren monetären Lockerung auch eine expansivere Fiskalpolitik und Strukturreformen vorsah, sollte die japanische Wirtschaft endlich wieder zurück auf den Wachstumspfad gebracht werden. Obwohl der japanische Aktienmarkt damals eine bis heute anhaltende Kursrallye startete, wurden die langfristigen Inflations- und Wachstumsziele jedoch zunächst nicht erreicht.

Zuletzt verbesserte Wachstums- und Inflationsdynamik

Trotz der wachstumsdämpfenden demografischen Entwicklung angesichts der zunehmenden Alterung und der seit 2010 sinkenden Bevölkerung sowie den seit 2018 zunehmenden Handelshemmnissen und geopolitischen Herausforderungen konnte die japanische Konjunktur im Jahr 2023 mit 1,9 % im Vergleich mit anderen Industriestaaten jedoch überdurchschnittlich zulegen, wenngleich der private Konsum und die Investitionen gegen Ende des Jahres an Dynamik verloren. Besonders im Fokus stand aber in den letzten Monaten die Inflation, die aufgrund stark gestiegener Energie- und Rohstoffpreise sowie einer anhaltend niedrigen Arbeitslosenquote von rund 2,5 % und resultierenden deutlichen Lohnsteigerungen zuletzt auch Japan erreichte. Im Januar 2023 stieg die Teuerung mit 4,3 % auf den höchsten Stand seit 1980 und beendete damit die Deflationsphase. Mit 2,7 % im März 2024 lag der Anstieg der Verbraucherpreise nach wie vor deutlich im positiven Bereich und oberhalb der Zielmarke der BoJ.

Der Sonderweg der japanischen Notenbank

Trotz der höheren Inflation hat die Bank of Japan – anders als die meisten Notenbanken weltweit – lange auf Gegenmaßnahmen verzichtet, um das Lohnwachstum nachhaltig anzukurbeln und Unternehmen zu motivieren, gestiegene Kosten an die Konsumenten weiterzureichen. Der jahrelange ultraexpansive geldpolitische Kurs inklusive negativer Leitzinsen, der sogenannten Yield Curve Control (YCC), also der Deckelung der Renditen japanischer Staatsanleihen auf niedrigsten Niveaus sowie dem massiven Kauf von Staatsanleihen und Aktienindex-ETFs wurde zunächst beibehalten. Erst konkret absehbare, stärkere Lohnsteigerungen – die Erwartungen der BoJ belaufen sich auf 5,3 % im laufenden Jahr – veranlasste die Notenbanker zu einem zunächst nur zaghaften Kurswechsel. Erstmals seit fast zwei Jahrzehnten wurde der Leitzins im März leicht angehoben. Neben der Leitzinsanpassung auf eine Spanne von 0–0,1 % von zuvor ‑0,1 %, wurden auch die Käufe von ETFs sowie das Programm zur Steuerung der Renditekurve beendet.

Die Zinswende könnte den ersten strategischen Schritt hin zu einem selbsttragendem Wachstumspfad ohne die bisherige Abhängigkeit von Geld- und Fiskalpolitik markieren. Trotzdem bleibt die BoJ noch expansiv und kauft zunächst weiter japanische Staatsanleihen, denn der „positive Kreislauf von Löhnen und Preisen“ soll weiter gefördert werden, um das langfristige Inflationsziel von 2 % nachhaltig und stabil zu erreichen.

Ausgeprägte Schwäche des Yen

Aufgrund des immer gravierenderen Arbeitskräftemangels kann jedoch von weiter steigenden Löhnen ausgegangen werden. Daraus resultierend dürften auch die Preise im besonders lohnintensiven Dienstleistungssektor weiter anziehen. Trotzdem ließ die BoJ die Leitzinsen auf ihrer ersten Sitzung nach der Zinswende unverändert. Notenbankchef Kazuo Ueda stellte allerdings weitere Erhöhungen in Aussicht. Dabei steht zunehmend auch die Entwicklung des japanischen Yen im Fokus. Seit Anfang 2022, dem Beginn der weltweiten Zinssteigerungen im Zuge teils explodierender Inflationsraten befindet sich die Währung auf einem beschleunigten Abwertungspfad. Nachdem kürzlich die Marke von 160 JPY/USD überschritten wurde, sah sich die japanische Politik offensichtlich zu einer Intervention gezwungen, denn eine weitere Schwächung des Yen könnte den Inflationspfad über die Verteuerung von Importen stärker als gewünscht befeuern.

Die besondere Rolle des Carry Trade

In dem dauerhaften Niedrigzinsumfeld der letzten Jahre war die Verschuldung in Yen auch für internationale Anleger oder ausländische Staaten besonders attraktiv. Mit Kapital aus günstigen Yen-Schulden konnten höher verzinsliche Anlagen, vornehmlich im US-Dollarraum, erworben werden. Schwellenländer, die Samurai-Bonds begeben, sich also in Yen verschuldet haben, konnten höhere Zinsen in ihren Heimatwährungen vermeiden. Noch lukrativer wurde dieser „Carry Trade“ durch die Abwertung des Yen, denn bei Fälligkeit des Kredits musste in Anlagewährung gerechnet weniger zurückgezahlt werden. Die Zinsdifferenz zugunsten des US-Dollar dürfte in den kommenden Monaten jedoch sinken, denn vonseiten der US-Notenbank Fed dürften spätestens Ende des Jahres 2024 Leitzinssenkungen erfolgen. Daraus resultiert eine zunehmende Wahrscheinlichkeit für eine Yen-Aufwertung und der Carry Trade würde sukzessive unattraktiver. Sollten aus dieser Gemengelage abrupte und größere Währungsbewegungen entstehen, könnten auch Anleihe- oder Aktiensegmente in Europa oder den USA durch die erzwungene Liquidierung von in Yen finanzierten Anlagen zwischenzeitlich eine erhöhte Volatilität erfahren. Eine schnelle und deutliche Aufwertung des Yen könnte jedoch auch die zaghaften Wachstums- und Inflationstendenzen in Japan gefährden. Daher dürfte die BoJ weiterhin sehr vorsichtig an einer Änderung ihres geldpolitischen Kurses arbeiten.

Positive Aussichten für Konjunktur und Kapitalmärkte

Mit Blick auf die kommenden Quartale ist mit einer sukzessiven Belebung der japanischen Konjunktur zu rechnen. Während Exporte durch den schwachen Yen unterstützt werden, sorgen steigende Löhne, die sinkende Inflation und bereits angekündigte Steuersenkungen für eine höhere Kaufkraft privater Konsumenten. Entsprechend stieg der von S&P Global berechnete Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe im April deutlich auf 49,9 Punkte und signalisiert damit nach einer monatelangen Schwächephase eine nahende Ausweitung der Produktion. Der Dienstleistungsindex rangiert mit 54,6 Punkten ohnehin weiter im expansiven Bereich. Vor allem die Beschäftigungs- und die Preiskomponenten zogen an und untermauern die Erwartung einer anhaltend dynamischen Inflationsentwicklung. Mit der Zinswende der BoJ und zumindest leicht steigenden Marktzinsen würde der Finanzsektor gestärkt und die Kreditvergabe angeregt werden. Zudem könnten attraktivere Anlagebedingungen ausländisches Kapital anziehen, was zusätzliches Investitionsvolumen in den lokalen Markt bringen würde. Weiterhin unterstützen Reformen zur Verbesserung der Corporate Governance schon seit Monaten die außergewöhnlich positive Aktienmarktentwicklung. Höhere Anreize zur Verschlankung von Konzernstrukturen beleben das M&A‑Geschäft und sorgen für eine effizientere Nutzung investierten Kapitals. Resultierende Produktivitätssteigerungen dürften den Weg Japans in eine neue geldpolitische und wirtschaftliche Ära zusätzlich unterstützen und den rasanten Anstieg der Aktienkurse auch nach dem Rekordhoch des NIKKEI Index von Ende März weiter antreiben.

Autor: Carsten Mumm, Chefvolkswirt, DONNER & REUSCHEL Aktiengesellschaft

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