Vernachlässigt das derzeitige Contrarian-Sentiment wesentliche ESG-Risiken?
In der Welt der grünen Energien richten Marktbeobachter derzeit ihr Augenmerk auf die ungewöhnlich niedrigen Forward P/E‑Ratios. Seit September 2022 haben die Aktienkurse in diesem Sektor aufgrund von Zinserhöhungen und Kostendruck erhebliche Einbußen erlebt, wobei ETFs, die in diese Thematik investieren, teilweise bis zu 50% ihres Kurses verloren haben. Dieser starke Rückgang wirft Fragen auf, vor allem in Anbetracht der zentralen Rolle, die diese Unternehmen in der Energiewende spielen. Vor dem Hintergrund der regulatorischeren Anforderungen wie SFDR („Sustainable Finance Disclosure Regulation“) und CSRD („Corporate Sustainability Reporting Directive“) wird die Unterscheidung zwischen nachhaltigen und nicht-nachhaltigen Investitionen auch immer wichtiger. Die Relevanz der Nachhaltigkeit des Portfolios steigt durch diese erhöhte Transparenz zunehmend.
Angesichts der niedrig erscheinenden Preise und des Nachhaltigkeitsprofils werden Investoren mit folgender Frage konfrontiert: Stellen derzeitige attraktive Preise eine Chance dar, Nachhaltigkeit günstig einzukaufen, denn bei Kursgewinnen steigt der Anteil nachhaltiger Assets? Die Antwort auf diese Frage ist aufgrund des doppelten Chancenprofils von Rendite und Nachhaltigkeit von hoher Relevanz.
Wettbewerb externalisierter Risiken
Obwohl der aktuelle Preisverfall an den Märkten größtenteils durch Zinsbewegungen und den Kostendruck getrieben zu sein scheint, lässt sich die fortgesetzte Zurückhaltung der Investoren nicht allein durch diese Punkte erklären. Die gestiegene Volatilität, besonders bei unerwarteten Zinsentscheidungen, ist im Vergleich zu globalen Indizes wie dem MSCI World deutlich erkennbar. Gleichzeitig zeigt sich ein fortschreitender Abwärtstrend, der auf tiefergreifendere Ursachen hindeutet.
Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Marktsektoren sind die ESG-bezogenen, wertgetriebenen Risiken. Obwohl Umweltrisiken global weiterhin Unruhe stiften, gewinnen andere externalisierte Risiken, insbesondere in den Bereichen Sicherheit, Verteidigung und Energieversorgung, zunehmend an Bedeutung. Häufig wird übersehen, dass diese Risiken miteinander konkurrieren: Die verfügbaren Ressourcen der Länder und supranationalen Institutionen können jeweils nur einem Megaprojekt zugeteilt werden. Derzeit sind die Umweltrisiken gegenüber den zuvor genannten Risiken nicht mehr konkurrenzfähig. Die massiven Herausforderungen in den Bereichen Verteidigung und Energiesicherheit stehen sogar teilweise in direktem Widerspruch zur Dekarbonisierung.
Aus unserer Sicht stellen grüne Energien möglicherweise eine Nachhaltigkeitsfalle dar: Auf der Makroebene sind sie durch die politische Ressourcenallokation den meisten geopolitischen Risiken ausgesetzt, auf der Mikroebene können Impact-Investoren den Unternehmenskurs aufgrund der starren Lieferketten kaum beeinflussen. Der Jahresbericht der Internationalen Energieagentur (IEA) „Energy Technology Perspectives“ hebt hervor, wie abhängig die Branche von Rohstoffen und deren Verarbeitung aus China ist. In einigen Bereichen existieren für die Unternehmen kaum Alternativen, um auf Kontroversen zu reagieren. Für werteorientierte Investoren dagegen könnte dies die Möglichkeit einschränken, durch gezielte Engagement Calls den Kurs eines Unternehmens zu beeinflussen.
Diese Betrachtung der Herausforderungen im Sektor der grünen Energien verdeutlicht, wie komplex die Beziehungen zwischen ökonomischen Chancen und Nachhaltigkeitsrisiken sind. Investoren und Regulierer sind gleichermaßen gefordert, diesen Nuancen Rechnung zu tragen, um fundierte Entscheidungen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu treffen.
Strategische Überlegungen
Die benannten Themen stehen jedoch nicht im luftleeren Raum. Beispielsweise wird die Verschuldung auf EU-Ebene erhöht und es werden Subventionsprogramme wie der Inflation Reduction Act (IRA) in den USA und der „Net Zero Industry Act“ in der EU initiiert. Weiterhin wurde beim „Stability and Growth Pakt“ der EU, der Staatsdefizite und Verschuldung reduzieren sollte, durch die jüngsten Reformen der Zeitraum für den Schulden- und Defizitabbau von vier auf sieben Jahre verlängert. Die finanziellen Mittel für die erneuerbaren Energien müssen dabei nicht einmal komplett neu geschaffen werden. Gemäß des Rocky Mountain Institutes wird oft übersehen, dass eine Umschichtung der Finanzierung von fossilen Rohstoffen bereits einen großen Teil des zukünftigen Wachstums gewährleistet.
Investoren sollten deshalb in ihrer Analyse die Wertschöpfungskette ausdehnen, angefangen bei der Ratifizierung der Maßnahmen, der Mobilisierung der Investmentbeträge in den Förder- und Investmentvehikeln bis hin zur Analyse des bürokratischen Genehmigungsprozesses. Aus der Nachhaltigkeitsperspektive ist zudem darauf hinzuweisen, dass nicht alle Unternehmen in dem Sektor gleichermaßen von den Lieferkettenproblemen betroffen sind. Firmen wie Engie SA, die breit in erneuerbare Energien investieren und dadurch weniger abhängig von chinesischen Ressourcen sind, illustrieren dies. Ein weiteres Beispiel ist First Solar, das durch die Verwendung alternativer Materialien eine klare Trennung von kontroversen Regionen zeigt. Beide Unternehmen sind aus dieser Perspektive daher attraktiv und sollten genauer betrachtet werden. Zudem ist zu erwarten, dass China im Falle eines Handelskrieges die Ausfuhr seltener Erden nicht komplett einstellen wird, wenn berücksichtigt wird, dass die EU und die USA die Hauptabnehmer sind. Für Wind- und Solarenergien sollte auf Unternehmensebene daher evaluiert werden, welche (begrenzten) finanziellen Auswirkungen eine Eskalation auf die Betriebskosten haben könnte.
Für eine nachhaltige Zukunft sind grüne Energien unabdingbar. Während dies für nachhaltige Investoren bereits deutlich ist, werden diese Überlegungen oft mit Renditevorstellungen abgewogen. Im Sektor der grünen Energien sind wir, trotz derzeitiger Schwierigkeiten, überzeugt, dass Renditechancen und Nachhaltigkeit sich nicht gegenseitig ausschließen. Investoren sollten sich zudem bewusst sein, dass die Unterfinanzierung des Sektors mit Risiken für ihre anderweitigen Investments einhergeht. Der Sektor sollte somit nicht nur als strategischer Sektor für die Politik, sondern als strategisches Investment für den Investor gesehen werden, der ohnehin Durationsrisiken eingeht.
Gastbeitrag von Ihsan Sat, Sustainable Asset Manager Warburg Invest KAG