Die globale Nachfrage nach Strom steigt. Dazu tragen nicht zuletzt Megatrends wie der Aufstieg der Künstlichen Intelligenz bei. Der damit verbundene höhere Energiebedarf hat das Ertragspotenzial auch von US-Versorgungsunternehmen in die Höhe getrieben. Viele Investoren sehen nun in der US-Versorgungswirtschaft den nächsten großen potenziellen Wachstumssektor.
Versorger sind die stillen Giganten der Energiewende. Die Tatsache, dass das Stromnetz der USA dringend erneuert werden muss, dürfte das Ertrags- und Dividendenpotenzial dieser Unternehmen zusätzlich steigern. Aus diesem Grund sollten US-Versorgungsunternehmen, die seit langem als zuverlässige Dividendenzahler bekannt sind, künftig auch von Wachstumsinvestoren nicht ignoriert werden.
- Veraltetes US-Stromnetz muss modernisiert werden
Der Großteil des US-amerikanischen Stromnetzes stammt aus den 1950er und 1960er Jahren. Entsprechend hoch ist heute der Modernisierungsbedarf. Darüber hinaus produzieren die USA viel Strom aus Erdgas und Kohle. Viele dieser Quellen werden jedoch in den nächsten 20 bis 30 Jahren auslaufen und durch andere ersetzt werden müssen.
Auch Waldbrände und Überschwemmungen belasteten zunehmend das Stromnetz des Landes. Die US-Versorger Pacific Gas & Electric und Southern California Edison beispielsweise haben Schwierigkeiten, ihre Netze gegen Naturkatastrophen zu wappnen und zusätzliche umweltfreundliche Energiequellen zu erschließen, um die Emissionsstandards zu erfüllen.
Hinzu kommt, dass deutliche Steigerung bei der Stromnachfrage erwartet wird: Nach Schätzungen von Capital Group dürfte der Strombedarf in den nächsten zehn Jahren um 3,5 % pro Jahr steigen, während er derzeit bei etwa 1,0 % liegt.
All diese Ausgaben führen für die US-Versorgungsunternehmen zu einem potenziellen Gewinnwachstum, da die Regulierungsbehörden den Unternehmen erlauben, ihre Investitionen durch Tariferhöhungen an die Endkunden weiterzugeben und so zu amortisieren.
Trotz der anhaltenden Debatten über fossile Brennstoffe im Vergleich zur Windenergie und anderen Formen erneuerbarer Energien ist der Übergang zu letzteren bereits in vollem Gange. Der Inflation Reduction Act aus dem Jahr 2022 bietet US-Versorgungsunternehmen weitreichende Anreize für die Einführung sauberer Energien und hat Staaten aus allen politischen Lagern Vorteile gebracht. Teile des Gesetzes könnten unter einer neuen Regierung geändert werden, aber es ist nicht abzusehen, dass die Unternehmen deshalb aufhören sollten, in erneuerbare Energien zu investieren. Umgekehrt bedeutet die steigende Nachfrage nach Strom jedoch auch, dass auf Erdgas und andere fossile Brennstoffe noch lange nicht verzichtet werden kann.
- Energieversorger treiben den KI-Boom an
Es ist kein Geheimnis, dass Künstliche Intelligenz (KI) viel Strom verbraucht. Für eine einzige ChatGPT-Anfrage wird so viel Energie benötigt wie für das 20-minütige Brennen einer Glühbirne, so das Forschungsunternehmen Allen Institute im Juli 2024.
Zahlreiche Technologieunternehmen nehmen ihren Energiebedarf deshalb selbst in die Hand. In diesem Jahr hat Amazon für 650 Mio. US-Dollar einen 960-Megawatt-Rechenzentrumscampus von Talen Energy gekauft und plant, Strom aus dem benachbarten Kernkraftwerk von Talen zu beziehen. Die Aktien von Unternehmen, die Kernenergie liefern, sind in die Höhe geschnellt: Der Kurs von Constellation Energy beispielsweise stieg seit Jahresbeginn bis zum 24. Juli um fast 50 %, während der S&P 500 Index im gleichen Zeitraum nur um 14 % zulegte.
Um die steigende Nachfrage zu decken und die Emissionsvorschriften einzuhalten, hat US-Versorger Dominion Energy mit dem Bau eines Offshore-Windparks im Wert von 10,3 bis 11,3 Mrd. US-Dollar begonnen. Nach Angaben der Rating-Agentur Standard & Poor’s versorgt das Unternehmen derzeit den Großteil der Rechenzentren in den USA mit Strom, die meisten davon in der „Data Center Alley“ in Nord-Virginia. Kalifornien steht mit Abstand an zweiter Stelle, und Dutzende weitere Märkte im Südosten, in Texas, Ohio und Arizona planen den Bau von Anlagen.
Die US-Regulierungsbehörden dürften Anreize für Unternehmen schaffen, mehr Kapazitäten zu entwickeln, ähnlich wie bei dem Offshore-Windprojekt von Dominion. Der Grund dafür ist, dass die steigende Zahl von Rechenzentren die Stromversorgung im ganzen Land beeinträchtigen könnte. Es wurden bereits Bedenken hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Stromnetzes geäußert, da kritische Infrastrukturen tendenziell gerade dann häufiger genutzt werden, wenn die Stromnachfrage Spitzenwerte erreicht.
Der Aufbau neuer Kapazitäten ist zwar nicht ohne Risiken. Doch was würde passieren, wenn der Bedarf nicht gedeckt werden kann? Der harte Wettbewerb um Strom hat dazu geführt, dass die Energieversorger beim Bau neuer Rechenzentren Verhandlungsmacht haben. Dazu gehören Vorauszahlungen und sogar Rückerstattungen von Technologieunternehmen, wenn der Ausbau nicht wie geplant verläuft. Zugespitzt formuliert: Ein Energieversorger wird nicht in die Versorgung eines 1000-Megawatt-Rechenzentrums investieren wollen, um dann festzustellen, dass nur 200 Megawatt benötigt werden, weil das betreffende Technologieunternehmen beim Aufbau des Rechenzentrums nicht Schritt halten konnte.
- Made in America: Reshoring beflügelt die Nachfrage nach Energien
Nachdem die Corona-Pandemie und verschiedene geopolitischen Ereignisse zwischenzeitlich erhebliche Unterbrechungen der Lieferketten nach sich zogen, haben sich viele US-Unternehmen für ein Reshoring, also eine Rückverlagerung von Produktionsstätten in die USA, entschieden.
Dieser Trend dürfte sich fortsetzen, was in den USA hochwertige Arbeitsplätze in der Fertigung schafft. Dies wirkt sich wiederum positiv auf die lokale Wirtschaft aus. Auch wenn sich einige Trends wie die Energiewende unter einer republikanisch geführten Regierung verlangsamen könnten, ist Reshoring für beide Parteien ein Thema.
Energieintensive Branchen wie die Halbleiter‑, Pharma- und Automobilindustrie sind Teil der Reshoring-Welle. Im Halbleiterbereich beispielsweise plant Intel den Ausbau seiner Fertigungsanlage in den USA mit Mitteln aus dem CHIPS and Science Act (Creating Helpful Incentives to Produce Semiconductors, auf Deutsch: Schaffung hilfreicher Anreize für die Halbleiterproduktion).
Die Unternehmen gehen dabei strategisch vor und berücksichtigen die Möglichkeit von Fabrikschließungen, Arbeitskräftemangel und andere Risikofaktoren. Die meisten Unternehmen bauen gleich mehrere Lieferketten auf, und es besteht der allgemeine Wunsch, die Produktion in Ländern mit Einfuhrzöllen wie China zu vermeiden.
US-Versorgungsunternehmen: Das Beste aus Value und Growth?
Der beschriebene Rückenwind für US-Versorgungsunternehmen dürfte im Laufe des kommenden Jahrzehnts zahlreiche Wachstumschancen eröffnen. Dabei geht es nicht nur um KI. Mit Blick auf die kommenden zehn Jahre dürften bereits Trends wie die Verlagerung von Industrieanlagen in das eigene Land und die Elektrifizierung von Haushaltsgeräten ausreichen, um die Stromnachfrage erheblich zu steigern.
Hinzu kommt der Ruf des Sektors als eine Art Bond-Proxy, da er in der Vergangenheit in Zeiten volatiler Aktienmärkte ein gewisses Maß an Stabilität und Erträgen bieten konnte. Versorgungsunternehmen liefern Anlegern in der Regel verlässliche Renditen, wobei die Dividendenrendite der im S&P 500 Index enthaltenen Versorgungsaktien in der Vergangenheit zwischen 3 und 5 % lag. Und wenn sich die Konjunktur abschwächt, wenden sich Anleger ebenfalls häufig den Energieversorgern zu, da sie sich im Vergleich zum S&P 500 Index in der Regel dennoch gut entwickeln.
Auch in Zukunft dürften US-Energieversorger ihre Dividendenqualitäten beibehalten. Aber der Sektor könnte volatiler werden, wenn künftig mehr Wachstumsinvestoren an den Aktien interessiert sind.
Autor: Christophe Braun, Equity Investment Director bei Capital Group