Die Entwicklung digitaler Kapitalmärkte hat einen neuen Meilenstein erreicht: Mit dem DLT Pilot Regime hat die EU eine „regulatorische Sandbox“ für den dezentralen Handel mit Krypto-Wertpapieren geschaffen. Das eröffnet Investoren und Vermögensverwaltern in Zukunft neue Möglichkeiten. Welche das sind und wie sich Finanzunter- nehmen jetzt darauf einstellen müssen, erläutert Jens Siebert, Partner im Bereich Financial Services bei KPMG.
Die runden Tische, unzählige Monitore und die riesige Anzeige an der Wand: Viele Anleger kennen die Frankfurter Börse nur aus der Tagesschau. Direkt auf diesem Parkett zu handeln, ist für viele ein Traum – und wird es auch bleiben, denn der direkte Handel an Börsenplätzen ist durch die sogenannte Vermittlerpflicht Wertpapierfirmen und Kreditinstituten vorbehalten. Dank einer neuen Verordnung der Europäischen Union (EU) kommen Börsenfans ihrem Traum aber zumindest ein kleines Stück näher: Mit dem DLT Pilot Regime hat die EU – innerhalb einer „regulatorischen Sandbox“ – Rechtssicherheit geschaffen für den Handel mit Krypto-Wertpapieren – mit potenziell weitreichenden Folgen für den Finanzmarkt.
Um diese Folgen zu verstehen, ist ein Blick hinter die Kulissen notwendig. DLT steht für Distributed Ledger Technologie und ermöglicht das Führen von verteilten digitalen Kassenbüchern. In diesen digitalen Kassenbüchern können Transaktionen vertrauenswürdig und fälschungssicher dokumentiert werden. Hierfür werden innerhalb der verteilten Kassenbücher digitale Token (Eigentumsnachweise) erzeugt und übertragen. Solche Token können auch klassische Wertpapiere wie Anleihen oder Fonds repräsentieren. Damit sie aber als Wertpapier gehandelt werden können, müssen sie bisher bei einem sogenannten Zentralverwahrer hinterlegt werden – und würden damit ihre Kerneigenschaft der Dezentralität verlieren. Damit besteht einerseits das Potenzial, mittels Tokenisierung Wertpapiere effizient zu begeben und zu übertragen, aber gleichzeitig bisher keine Möglichkeit, diese als Wertpapiere zu handeln. Entsprechend konnten tokenisierte Wertpapiere bisher nicht ihr volles Potenzial entfalten. Das hat auch die EU erkannt und mit dem DLT Pilot Regime einen Regelungsrahmen für den rechtssicheren Handel und die Abwicklung von tokenisierten Wertpapieren geschaffen.
Banken unter Druck, Vermögensverwalter als Beobachter
Für die Transformation des Kapitalmarktes stellt diese Verordnung einen kleinen Meilenstein dar. Schließlich besteht damit erstmals die Möglichkeit, dass neben dem klassischen Wertpapierhandel neue, dezentrale Märkte für DLT-basierte Finanzinstrumente entstehen, die ein signifikantes disruptives Potenzial entfalten könnten. Etablierte Kapitalmarktakteure wie Depotbanken, Asset Manager und Zentralverwahrer beobachten die Entwicklungen daher genau und bewerten potenzielle Effekte auf ihr Geschäftsmodell. Denn DLT-Finanzinstrumente können nicht nur dezentral abgewickelt werden, sondern bieten auch die Möglichkeit als programmierbare Wertpapiere wesentliche Prozesse im Lebenszyklus eines Assets zu automatisieren. Das heißt, typische Prozesse wie Zinszahlungen, Abführung von Kapitalertragssteuer oder andere Corporate Actions, die aktuell von Zahlstellen, Banken und Asset Managern erledigt werden, würden durch diese programmierbaren Wertpapiere selbstständig übernommen werden.
Während Banken und andere Asset Servicing Anbieter also zunehmend unter Druck geraten, können es sich Investoren und Vermögensverwalter aktuell noch in der Zuschauerrolle gemütlich machen, denn das DLT Pilot Regime bietet zunächst nur den Rechtsrahmen für DLT-basierte Kapitalmärkte. Im nächsten Schritt müssen Plattformen entwickelt, Marktinfrastrukturen aufgebaut und DLT-Wertpapiere emittiert werden. Erst dann wird der Markt für Investoren interessant. Dennoch ist es auch für diese Unternehmen schon jetzt ratsam, sich mit dem Handel DLT-basierter Wertpapiere auseinanderzusetzen. Denn sobald der Markt bereitet ist, werden auch sie die ersten Auswirkungen spüren. Worauf also müssen sie sich jetzt einstellen?
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