Wie ticken die Uhren in Washington, Berlin und Peking? Wie ist der Zustand der jeweiligen Volkswirtschaften? Was dürfen wir erwarten? Wie ist es um Deutschland bestellt? Chefvolkswirt Dr. Johannes Mayr, Eyb&Wallwitz, im Gespräch.
INTELLIGENT INVESTORS: Angesichts der multiplen Krisen und schwächelnder Konjunktur, welche Erwartungen hegen Sie für die Entwicklung der internationalen Aktienmärkte in den kommenden Monaten?
Dr. Johannes Mayr: Kurzfristig sind Rücksetzer jederzeit möglich, auch da einzelne Sektoren und Geschäftsmodelle ein sehr freundliches Umfeld einpreisen. Dagegen wird die Bedeutung der diskutierten politischen Risiken – der „known unknowns“ – auf die Finanzmärkte häufig überschätzt. Meist sind die relevanten Szenarien zumindest teilweise eingepreist. Und die Weltwirtschaft als Ganzes wie die Geschäftsmodelle von nachhaltig erfolgreichen Unternehmen sind resilient und anpassungsfähig gegenüber diesen Entwicklungen. Wichtiger sind die großen makroökonomischen Weichenstellungen und Wachstumstrends. Und da sieht es, vor allem mit Blick auf die USA, nicht so schlecht aus. Das Arbeitsangebot wird durch die hohe Zuwanderung angeschoben. Und die Produktivität profitiert von steigenden Investitionen und dem zunehmenden Einsatz von KI entlang der Wertschöpfungsketten. Hinzu kommen die großen öffentlichen Investitionsprogramme in die Infrastruktur und die Energieversorgung.
II: In den USA hat sich die Inflation im Juli leicht abgeschwächt. Eine Zinssenkung im September gilt als ausgemacht. Erwarten Sie kurzfristig mehrere Zinsschritte der Fed?
Dr. Mayr: Auch in unserem Szenario eines Soft Landing der US-Wirtschaft wird es die Fed nicht bei einem Zinsschritt in diesem Jahr belassen. Denn derzeit liegt der Leitzins doch deutlich über dem aus unserer Sicht mittelfristig vertretbaren Niveau von 3 bis 4%. Eine starke Zinssenkungsbewegung in Richtung früherer Tiefs ist aber nur im Fall einer Rezession zu erwarten. Darauf sollte man nicht hoffen.
II: Zuletzt gab es Sorgen um eine deutliche Abschwächung in den Vereinigten Staaten. Hat dort eine Rezession begonnen?
Dr. Mayr: Einzelne Indikatoren zeigen in diese Richtung. Eine solche Datenvolatilität ist in konjunkturellen Wendephasen nicht ungewöhnlich. In der Gesamtschau zeigt sich aber eine weiterhin robuste US-Wirtschaft, die in den kommenden Monaten von einem anziehenden Investitionszyklus profitieren sollte. Das Soft Landing bleibt unser Basisszenario. Das heißt, Angebot und Nachfrage kommen auch durch eine Verbesserung des Angebots in Einklang. Die Wirtschaft stürzt also nicht ab. Vielmehr kommt ihr die Landebahn entgegen. Klar ist aber auch: Der Grat für eine solch sanfte Landung ist nach einer so starken Zinswende schmal. Angesichts des begrenzten Wissens zu künftigen Entwicklungen („unknown unknowns“) sollte man konjunkturelle Prognosen stets mit Demut angehen.
II: Mit Blick auf die Präsidentschaftswahl: Welche Auswirkungen könnte der Ausgang auf die Energiepolitik einerseits und die Schuldenproblematik andererseits haben?
Dr. Mayr: Bei einem Wahlsieg von Kamala Harris wird der bisherige expansive Kurs in der Fiskalpolitik inklusive der Förderung von Erneuerbarer Energien wohl weiter gehen. Steueranhebungen dürften allenfalls moderat ausfallen und die Staatsschulden dürften deshalb perspektivisch weiter steigen. Unter Trump könnte das Defizit durch die angekündigten breiteren Steuersenkungen für Haushalte und Unternehmen kurzfristig noch deutlich höher ausfallen. Dennoch könnten US-Aktien zunächst profitieren. Denn Steuersenkungen, weniger Regulierung und niedrigere Energiepreise stützen die Gewinnerwartungen. US-Staatsanleihen und europäische Aktien könnten durch die restriktiven Maßnahmen im Bereich Migration und Handel und den dadurch verstärkten Aufwärtsdruck auf die Inflationsprämien unter Druck kommen. Entscheidend für die Umsetzbarkeit der Pläne ist in beiden Fällen aber natürlich die Konstellation im Kongress.
II: Ob IWF, ifo oder ZEW – die deutsche Konjunktur lahmt und wir bilden Europas Schlusslicht. Wie ist es um die Lage Deutschlands‘ realistischerweise bestellt?
Dr. Mayr: Das deutsche Geschäftsmodell steht derzeit bekannterweise von mehreren Seiten unter Druck: die restriktive Geldpolitik und die zögerliche Fiskalpolitik, der lahmende sektorale Wandel, der Wegfall günstiger Energie und die zunehmende Konkurrenz auf ausländischen Wachstumsmärkten. Die niedrigen Wachstumszahlen sind aber nur zum Teil als konjunkturelle und damit vorrübergehende Schwäche zu interpretieren. Das größere Problem liegt im deutlich gesunkenen Wachstumspotenzial. Neben der demografischen Entwicklung spielt hier die Verlangsamung der Produktivität eine entscheidende Rolle. Grundlegende Reformen sind unabdingbar. Dazu gehört auch, dass die Vollkaskomentalität wieder zurückgedrängt werden muss. Denn das stetige Eingreifen des Staates überlastet die öffentlichen Haushalte, erhöht die private Verschuldung und verhindert Marktbereinigungen. All das lastet auf der Produktivitätsentwicklung. Auch die Wirtschaftspolitik muss deshalb mehr Schumpeter und damit mehr schöpferische Zerstörung wagen.
II: Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in China hinsichtlich Wachstumsperspektiven und Bewertung ein?
Dr. Mayr: Auch in China hat sich das Wachstumspotenzial verlangsamt. Es liegt derzeit noch bei 4–5%. Und die konjunkturelle Entwicklung wird nach wie vor durch die hohe Verschuldung und die Überkapazitäten im Immobiliensektor belastet. Die chinesische Regierung hat zwar die Mittel, um den Privatsektor zu stabilisieren, und wird diese auch einsetzen. Sie agiert bisher aber recht zögerlich und nimmt vor allem weniger Rücksicht auf die Entwicklung im Rest der Welt. Anders als nach der Finanzkrise wird China wohl auch perspektivisch nicht mehr der Stoßdämpfer für die Weltwirtschaft sein. Die günstige Bewertung des Marktes und vor allem die Skepsis internationaler Investoren liegt aber natürlich auch an den gestiegenen wirtschafts- und geopolitischen Unwägbarkeiten und staatlichen Eingriffen in Unternehmen oder Sektoren. Dieses Vertrauen zurückzugewinnen wird nicht leicht.