Die Rolle der Finanzmärkte

In den letzten 100 Jahren hat sich die Finanzdienstleistungsbranche grundlegend verändert. Damals war Vermögensanlage die Domäne reicher Privatanleger und großer institutioneller Investoren – bis Vermögensverwalter die Finanzmärkte breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich machten und auch Kleinanleger Marktzugang erhielten. Im Laufe der Zeit wurde unsere Branche dann immer komplexer. Dabei ist Investieren im Grunde ganz einfach: Man gibt heute Kapital her, um morgen von einem Unternehmen oder Staat Cashflows zu erhalten. Letztlich ist Investieren noch immer das, was es einmal war.
17. August 2020
Robert M. Almeida, Jr. - Foto: MFS Investment Management

In den letzten 100 Jahren hat sich die Finanzdienstleistungsbranche grundlegend verändert. Damals war Vermögensanlage die Domäne reicher Privatanleger und großer institutioneller Investoren – bis Vermögensverwalter die Finanzmärkte breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich machten und auch Kleinanleger Marktzugang erhielten. Im Laufe der Zeit wurde unsere Branche dann immer komplexer. Dabei ist Investieren im Grunde ganz einfach: Man gibt heute Kapital her, um morgen von einem Unternehmen oder Staat Cashflows zu erhalten. Letztlich ist Investieren noch immer das, was es einmal war.

Schwächere Bilanzen und niedrigere Gewinne

Die Gewinnmargen der Unternehmen hatten schon lange vor der Pandemie ihren Gipfel erreicht und gingen seitdem wieder zurück. Auch die Bilanzen waren schwach; bereits vor der weltweiten Ausbreitung des Coronavirus ließ ihre Qualität nach. Als der Kampf gegen COVID-19 im 1. Quartal eine massive Einschränkung der Wirtschaft erforderte, sahen sich die Unternehmen gezwungen, Umsatzeinbußen durch massive Anleihenemissionen auszugleichen. Ihre Finanzen verschlechterten sich weiter, zumal Hygienemaßnahmen für Kunden und Mitarbeiter zusätzliche Ausgaben verursachten. Viele Firmen müssen auch ihre Lieferketten überdenken, nachdem es ihnen so viele Jahre lang ausschließlich um Einsparungen gegangen war. Auch das wird Auswirkungen auf die Gewinne haben, wenn die höheren Kosten nicht an die Kunden weitergegeben werden können und sich auch der Absatz nicht steigern lässt. Die höhere Fremdkapitalaufnahme wird die Kapitalrendite auf Jahre schwächen. In Zukunft dürften die Cashflows deshalb eher enttäuschen.

Seltsame Gewinnerwartungen

Wie aber kommen die ordentlichen Gewinnerwartungen für 2021 zustande, wenn die Unternehmen höher verschuldet sind und ihre Betriebskosten steigen – und sie zwar mehr produzieren, aber die Endnachfrage niedriger ist als 2019? Die Gewinne steigen nicht linear, und am letzten Kunden verdient man am meisten. Skaleneffekte sind äußerst wichtig. Wenn die Umsätze nicht wesentlich stärker zulegen als 2019, weiß ich nicht, wie diese Gewinnerwartungen eintreffen können.

Versuchen wir daher eine andere Sicht: Aufs Jahr hochgerechnet ist die US-Wirtschaft im letzten Quartal um ein Drittel geschrumpft. Selbst während der internationalen Finanzkrise gab es keinen derartigen Einbruch.

Die Abbildung (im Anhang) zeigt, dass es dieses Jahr wohl so viele große Insolvenzen geben wird wie seit der internationalen Finanzkrise nicht mehr. Mir scheint das plausibel. Vor der Rezession 2008 waren hoch verschuldete Finanzinstitute das Problem; die Ungleichgewichte beschränkten sich im Wesentlichen auf eine Branche. Weil die meisten anderen Sektoren kein frisches Eigenkapital brauchten, haben sich die Gewinne schnell wieder erholt. Aber 2020 ist das anders.

Die schwache Erholung nach der internationalen Finanzkrise und die Reaktion der Notenbanken sorgten im letzten Konjunkturzyklus für noch größere Ungleichgewichte. Wegen der expansiven Geldpolitik konnten sich umsatzschwache Unternehmen Geld leihen, statt Cashflows zu erwirtschaften. Anders als 2008 finden sich hoch verschuldete Unternehmen 2020 in vielen Branchen, und oft wird die Pandemie als Ausrede für schwache Zahlen benutzt. Dabei ging die Nachfrage schon Anfang 2020 zurück. Auch die Bilanzen waren zu Jahresbeginn schon anfällig, und man übte sich in Finanzakrobatik. Ich rechne deshalb in dieser Rezession mit mehr Insolvenzen und fürchte auch, dass sich die Rentabilität nicht so schnell erholt wie sonst.

Warum signalisieren die Märkte etwas anderes?

Die ehrliche Antwort ist, dass es niemand weiß. Dennoch möchte ich ein paar Worte dazu sagen. Auf den ersten Blick haben Investoren heute vielfältige Möglichkeiten: Es gibt Wachstums- und Substanzwerte, Large Caps und Small Caps, Industrieländer-Unternehmensanleihen, Emerging-Market-Titel und vieles andere mehr. Eigentlich gibt es aber nur eine einzige Assetklasse: die Volatilität. Letztlich sind die meisten Finanzinstrumente Short-Positionen in Volatilität. Ihre Kurse steigen, wenn die Marktteilnehmer mit mehr Sicherheit und Stabilität rechnen – und geben nach, wenn sich das Umfeld verschlechtert.

US-Staatsanleihen und Gold sind hingegen Long-Positionen in Volatilität. Sie profitieren von einer zunehmenden Unsicherheit. Doch in letzter Zeit haben Geld- und Fiskalpolitik Unternehmensverluste mit Liquiditätsspritzen ausgeglichen und damit die Kosten des Risikos künstlich gesenkt. Die früher negative Korrelation zwischen Short- und Long-Positionen in Volatilität ist positiv geworden. Heute steigen alle Kurse, weil überschüssiges Kapital mangelnden Chancen hinterherjagt. Ist das wirklich die Rolle der Finanzmärkte? Kapital sollte verantwortungsbewusster angelegt werden. Da sich der Cashflow-Ausblick verschlechtert, sind Geduld und eine kompetente fundamentale Einzelwertauswahl wichtiger denn je. (ah)

Gastautor: Robert M. Almeida, Jr. — Portfoliomanager und Globaler Investmentstratege bei MFS Investment Management

Foto: Robert M. Almeida, Jr. — © MFS Investment Management

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