Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE, kommentiert wöchentlich was die Märkte bewegt. In seinem aktuellen CIO View blickt er auf wirtschaftspolitische Notwendigkeiten nach der Bundestagswahlen am Sonntag:
„Am Sonntag wählen die Deutschen einen neuen Bundestag. Das Ergebnis dieser Wahl ist möglicherweise von entscheidender Bedeutung dafür, in welche Richtung sich Deutschland politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich in Zukunft bewegen wird.
Zunächst geht es darum, einen Weg zwischen Ost und West zu finden. Die Aktionen der neuen US-Regierung und die Veränderungen in der politischen Kultur der USA lassen den Atlantik schon wenige Wochen nach dem Wechsel im Weißen Haus deutlich breiter erscheinen als bisher. …
Zugleich versuchen auch Moskau und Peking, Einfluss zu gewinnen. Militärische Muskeln bekommen mehr Bedeutung. Ziemlich sicher scheint es, dass die deutschen Verteidigungsausgaben – ebenso wie die der anderen europäischen Nato-Länder – weiter gesteigert werden. Bei der NATO stehen Erhöhungen um 1,5 bis 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 3,5 bis 4 Prozent im Raum.
Wirtschaftlich geht es vor allem darum, den Wohlstand zu bewahren. Zu wenig wurde in den zurückliegenden Jahren in den Ausbau und die Modernisierung des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks investiert, auf privater Seite und auf staatlicher Seite. Deshalb stagniert die Produktivität in Deutschland (und Europa), und die Kapitalrentabilität ist oft wesentlich niedriger als beispielsweise in den USA. In einer Reihe von Schlüsseltechnologien, beispielsweise auf dem Feld der künstlichen Intelligenz, dominieren Unternehmen aus den USA und, vielleicht, Asien. Wirtschaftlich betrachtet hat sich in Deutschland und Europa erheblicher Handlungsbedarf angesammelt.
Will man den Anschluss nicht verlieren, ist es Zeit aktiv zu werden. Aus dem ökonomischen Blickwinkel muss es nach unserer Überzeugung darum gehen, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands (und Europas) und die Wachstumsmöglichkeiten zu stärken. Die dafür erforderlichen Investitionen wird es aber nur geben, wenn die Angebotsbedingungen systematisch verbessert werden. Das umfasst nach unserer Einschätzung mindestens sechs wesentliche Veränderungen:
(1) niedrigere Unternehmensbesteuerung und verbesserte Abschreibungsbedingungen,
(2) Abbau von Bürokratiekosten und Regulierungen, Beschleunigung von Entscheidungsprozessen, Verbesserung der Planungssicherheit,
(3) international konkurrenzfähige Energiekosten,
(4) gezielte öffentliche Investitionen,
(5) Stärkung des Kapitalmarkts als Finanzierungsquelle,
(6) Stärkung des Arbeitskräfteangebots, Verbesserung der Arbeitskräftemobilität.
Das sind nach unserer Überzeugung die wesentlichen wirtschaftspolitischen Aufgaben der nächsten Bundesregierung. Den Umfragen zufolge ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es eine Koalitionsregierung unter Führung von CDU/CSU sein wird. Die Partnerwahl ist zu diesem Zeitpunkt offen. Grundsätzlich kommen SPD und Grüne in Frage. Ob eine Zweierkoalition jedoch eine stabile Mehrheit im Bundestag sichert, hängt unter anderem vom Abschneiden der kleinen Parteien – FDP, Linke und BSW – ab. Je mehr Parteien die 5 Prozent-Marke überspringen und je größer damit die Fragmentierung des Parlaments wird, desto schwieriger wird vermutlich die Bildung einer stabilen und handlungsfähigen Regierung sein. Da die Entscheidung „mehr oder weniger als 5 Prozent“ von wenigen hundert Stimmen abhängen kann, lässt sich über die Sitzverteilung des nächsten Bundestags und die möglichen Varianten von Koalitionen kaum mehr als spekulieren. …
Das denkbar schlechteste Wahlergebnis wäre eine Sitzverteilung, die keine klare Mehrheit für die künftige Bundesregierung bringt.
Die Herausforderungen, die sich durch die Handelspolitik der Trump-Administration und durch neue sicherheitspolitische Erfordernisse ergeben, erschweren die Aufgabe der Politik. …
Wenn es gelingt, den Wachstumsprozess wieder in Gang zu setzen, wird vieles leichter. Die Voraussetzungen sind nach wie vor gegeben: Highend-Forschung, technologisches Knowhow, qualifizierte Fachkräfte, Unternehmertum, globale Präsenz, Finanzkraft. Der Europäische Binnenmarkt ist für die deutschen Unternehmen ein großer Heimatmarkt, der Rückhalt bieten kann. Aber wir werden dieses Potenzial nur dann ausschöpfen können, wenn wir wettbewerbsfähig bleiben.
Dies wird auch für den deutschen Aktienmarkt immer bedeutender. Bisher konnten viele deutsche Unternehmen die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft durch ihre Präsenz auf Auslandsmärkten mit höheren Wachstumsraten ausgleichen. Sollten die protektionistischen Tendenzen in der Weltwirtschaft zunehmen, werden die Absatzmärkte in Europa umso wichtiger für die deutschen Unternehmen. Schon aus diesem Grund ist es unerlässlich, dass die künftige Bundesregierung alles dafür unternimmt, dass die Wachstumskräfte in Deutschland besser freigesetzt werden.“