In einer Welt ohne Zentralbanken würde sich am Finanzmarkt ein Gleichgewichtszins bilden – der Zinssatz, bei dem Kapitalangebot und ‑nachfrage im Gleichgewicht sind. Es ist praktisch der Zinssatz, der die Wirtschaft bei Vollbeschäftigung und stabilen Preisen ausbalanciert. Einfluss auf den Gleichgewichtszins haben insbesondere, ob die privaten Haushalte lieber schon heute oder erst in Zukunft konsumieren (Zeitpräferenz), die Investitionsabsichten der Unternehmen, die Kreditaufnahme des Staates und ausländische Akteure.
Ein oft zitiertes ökonometrisches Modell zeigt, dass der globale reale Gleichgewichtszins zwischen 2016 und 2020 bei etwa minus 0,75 % lag, während er zwischen 1971 und 1975 bei etwa 2,8 % notierte. Der Rückgang lässt sich durch die steigende Lebenserwartung (= sinkende Zeitpräferenz) und ein sinkendes Produktivitätswachstum erklären. Sollte diese Schätzung auch heute noch zutreffen, läge der nominale Gleichgewichtszins – sprich der reale Gleichgewichtszins plus die Inflationsrate – für die Eurozone bei etwa 1,25 %.
Hebt die Zentralbank den Leitzins auf oberhalb des nominalen Gleichgewichtszinses an, ist ihre Geldpolitik restriktiv und bremst das Wirtschaftswachstum. Die Notwendigkeit dafür ergibt sich, wenn entweder die Inflation über dem Zielwert liegt oder wenn die Produktionslücke positiv ist – also, wenn die gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten zu stark ausgelastet sind. Ein Leitzins unterhalb des nominalen Gleichgewichtszinses ist für das Wirtschaftswachstum förderlich.
Momentan sollte sich das Wirtschaftswachstum in der Eurozone aufgrund der sehr restriktiven Geldpolitik eigentlich weiter abschwächen – unter der Annahme, dass der reale Gleichgewichtszins unverändert bei minus 0,75 % liegt. Tatsächlich war jedoch bei einem realen Leitzins von etwa 1,5 % eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums zu beobachten. Ist der neutrale Gleichgewichtszins also gestiegen?
Das Problem von Modellen ist, dass sie oft nur langsam auf Veränderungen reagieren und daher kein guter Wegweiser bei aktuellen Fragestellungen sind. Ein pragmatischer Weg, um ein Gefühl für den aktuellen Gleichgewichtszins zu bekommen, ist, den nominalen Wirtschaftswachstums-Trend zu analysieren. So lag das durchschnittliche nominale Wirtschaftswachstum in Japan zwischen 1996 und 2019 bei jährlich etwa 0,2 % – und damit der angemessene Leitzins in etwa auf diesem Niveau. In der Eurozone könnte sich in den kommenden Jahren das nominale Wirtschaftswachstum bei etwa 3,0 % einpendeln, wie auch schon vor der Pandemie. Unseres Erachtens dürfte daher der Gleichgewichtszins in der Eurozone auf etwa 3,0 % gestiegen sein. Denn die Spuren der Finanzmarktkrise mit ihren Auswirkungen auf die Zeitpräferenz und die Investitionsabsichten sind verblasst. Auch gibt es große Anforderungen an die Staatsfinanzen – etwa durch Infrastruktur, Rüstung, Energiewende, Deglobalisierung und Demografie – die zu einem höheren Gleichgewichtszins beitragen könnten.
Aber auch mit einem höheren Gleichgewichtszins ist die Geldpolitik derzeit immer noch restriktiv. Wir erwarten daher, dass die EZB den Leitzins bis März 2025 auf 3,0 % senken und dann bis Jahresende 2025 keine Anpassung mehr vornehmen wird.
Autor: Edgar Walk, Chefvolkswirt bei Metzler Asset Management