Im Nachgang zum dritten IPO der Deutschen Telekom AG im Jahr 2000 wurden tausende Schadenersatzklagen von Anlegerinnen und Anlegern gegenüber dem Emittenten erhoben. Die Klagen basierten auf fehlerhaften Prospektangaben, namentlich der falschen Ausweisung eines Buchgewinns für die Übertragung von Aktien einer Drittgesellschaft. Zur Vermeidung einer Überlastung der Zivilgerichte und Verbesserung der Rechtsschutzmöglichkeiten führte der Gesetzgeber daher 2005 das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz („KapMuG“) ein.
Das KapMuG kommt bei Schadenersatzprozessen wegen irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformationen oder bei Erfüllungsansprüchen aus einem Vertrag, der auf einem öffentlichen Angebot nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz beruht, zur Anwendung. Auch wenn öffentliche Kapitalmarktinformationen verwendet werden oder eine gebotene Aufklärung hierüber unterbleibt, kann ein Kapitalanleger-Musterverfahren („Musterverfahren“) eingeleitet werden.
Musterverfahren können nicht nur von Verbrauchern, sondern auch von institutionellen Anlegern geführt werden. So führt die DEKA Investment GmbH als Musterklägerin (weitere Beigeladene sind beispielsweise das California State Teachers‘ Retirement System) seit 2016 eines der derzeit bekanntesten Musterverfahren gegen die VW AG und die Porsche SE.
Musterverfahren werden häufig als ineffizient, langwierig und teuer kritisiert. Der Bundestag hat am 13. Juni 2024 eine Reform des KapMuG beschlossen, um dieser Kritik Rechnung zu tragen. Die Reform trat am 20. Juli 2024 in Kraft und gilt seitdem für alle neu eingehenden Musterverfahren. Dieser Beitrag beschreibt die elementaren Änderungen und untersucht, inwieweit Geschädigte künftig tatsächlich schneller zu ihrem Recht gelangen können.
Anwendungsbereich
Mit der Reform hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des KapMuG erweitert. Künftig werden auch Ratings von Ratingagenturen sowie Bestätigungsvermerke von Abschlussprüfern zu Jahres- und Konzernabschlüssen von Vermögensanlagenemittenten als öffentliche Kapitalmarktinformationen definiert. Dies eröffnet nun ausdrücklich die Möglichkeit, Musterverfahren auch für Schadensersatzansprüche gegen Ratingagenturen und Wirtschaftsprüfer zu nutzen, was nach der bisherigen Rechtslage strittig gewesen war und insbesondere im KapMuG-Verfahren gegen EY in Sachen Wirecard höchste praktische Bedeutung hat. In der Gesetzesbegründung heißt es jedenfalls, die Änderung sei eine bloße „Klarstellung“.
Zu den öffentlichen Kapitalmarktinformationen im Sinne des KapMuG zählen nun zudem auch Whitepaper über Kryptowährungen im Sinne der Verordnung über Märkte für Kryptowährungen (Verordnung (EU) Nr. 2023/1114 — MiCaR). Whitepaper dienen, vergleichbar einem Emissionsprospekt, der Information über den Kryptowert. Sie müssen als Mindestinhalt insbesondere Informationen über den Emittenten des Kryptowertes und das Vorhaben des Anbieters sowie dessen Rechte und Pflichten enthalten. Darüber hinaus sind der Kryptowert selbst und die zugrundeliegende Technologie zu beschreiben und über die Risiken des Kryptowertes aufzuklären. Kryptowährungen in diesem Sinne sind Asset-Referenced Token (ART — Vermögenswertreferenzierte Token) und Electronic Money Token (EMT — E‑Geld Token). Musterverfahren stehen damit künftig auch geschädigten Anlegern wegen Ansprüchen aus falschen, irreführenden oder unterlassenen Whitepapers zu Kryptowährungen zur Verfügung – ein Feld, in dem wir in den kommenden Jahren mit reichlich Streitpotenzial rechnen.
Verfahrensaussetzung
Die Einleitung eines Musterverfahrens am Oberlandesgericht bei gleichzeitiger Aussetzung des Ausgangsverfahrens erfolgt, sobald in mindestens zehn individuellen Schadenersatzprozessen wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformationen Anträge auf Einleitung eines Musterverfahrens gestellt wurden. Das Ziel des Musterverfahrens besteht in der Feststellung verfahrensübergreifender Sach- und Rechtsfragen, welche für alle beteiligten Verfahren bindende Wirkung entfalten. Nach Abschluss des Musterverfahrens entscheiden die Ursprungsgerichte unter Berücksichtigung der Feststellungen des Musterverfahrens über den individuellen Schadensersatzanspruch. In der Praxis kommt es hier dann häufig zu Vergleichen.
Bislang wurde vorausgesetzt, dass die Entscheidung des Ausgangsverfahrens konkret von den geltend gemachten Feststellungszielen des Musterverfahrens abhängig ist. Das Gericht war folglich verpflichtet, sämtliche Anspruchsvoraussetzungen abseits der Feststellungsfragen bis zur Entscheidungsreife zu treiben, bevor es aussetzt und diese dem OLG vorlegt. Diese Vorgehensweise war ineffizient und benachteiligte insbesondere internationale institutionelle Anleger, die oftmals zunächst in langwierigen Beweisaufnahmen darlegen mussten, wirksam gegründet und vertreten zu sein.
Die Reform modifiziert die bisherige Voraussetzung, dass die Entscheidung des Rechtsstreits von den Feststellungszielen des Musterverfahrens abhängen muss. Nunmehr ist lediglich nachzuweisen, dass dies „voraussichtlich“ der Fall sein wird. Das Ausgangsgericht muss also eine Prognoseentscheidung treffen, ob es annimmt, dass der jeweilige Kläger die nötigen Beweise außerhalb der Vorlagefragen wird führen können, und kann dann vorlegen. Diese Anpassung betrifft sinngemäß auch den Beitritt eines Klägers zu einem bereits anhängigen Musterverfahren als Beigeladener (Dritter mit eigenen Verfahrensrechten, vollem Akteneinsichtsrecht und dem Recht, Schriftsätze einzureichen und an den mündlichen Verhandlungen mitzuwirken) bei gleichzeitiger Aussetzung des eigenen Ursprungsverfahrens. Dies dürfte zu einer signifikanten Beschleunigung und Vereinfachung der Verfahren führen.
Parallelverfahren
Des Weiteren hat der Gesetzgeber die Mechanik neu justiert, wann es zu einer Aussetzung von Ausgangsverfahren kommen soll. Bislang konnte auch die beklagte Partei einen solchen Antrag stellen, zudem sollte die Aussetzung grundsätzlich von Amts wegen erfolgen. Künftig bedarf die Aussetzung zwingend eines Antrags, stellen kann ihn nur noch der Kläger. Dies stärkt die Dispositionsbefugnis der Kläger über die Art und Weise der Rechtsverfolgung.
Kläger können nun also im Einzelfall abwägen, ob sie das eigene Verfahren durch Beitritt zu einem Musterverfahren fördern oder doch ohne Aussetzung eigenständig fortführen. Im letzteren Fall besteht die theoretische Möglichkeit, dass es zu widersprüchlichen Entscheidungen über die gleichen rechtlichen oder tatsächlichen Fragen kommt, was das Musterverfahren eigentlich gerade verhindern will. Wir meinen indes, dass die Gefahr von Parallelverfahren in der Praxis als gering einzustufen ist. Unsere Erfahrung zeigt nämlich, dass der Beitritt zu einem Musterverfahren für Kläger in ihren Einzelfällen regelmäßig eine erhebliche Hilfe und Vereinfachung darstellt, auf die es kaum einmal lohnen mag, zu verzichten.
Neue Beweisregeln zur Dokumentenvorlage
Um eine effiziente Verfahrensgestaltung zu gewährleisten, erhält das Oberlandesgericht die neue Befugnis, auf Antrag einer Partei die Vorlage von Beweismitteln von der Gegenpartei oder Dritten anzufordern. Derartige Anordnungen könnten Beweisaufnahmen erheblich vereinfachen und das prozessuale Machtgefüge zwischen Klägern und Beklagten verschieben. Denn in aller Regel sind die Kläger für die anspruchsbegründenden Tatsachen beweisbelastet und Beweisprobleme gingen bisher zu ihren Lasten – worüber viele Schadensersatzprozesse gescheitert sind, weil Kläger an belastende Beweise der Beklagten schlicht nicht herankamen.
Der neue Mechanismus ist dem deutschen Zivilprozessrecht, das grundsätzlich (anders als das Common Law) keine Offenlegungs- oder Vorlagepflicht von Dokumenten kennt, eher fremd. Jede Partei entscheidet, was sie zu ihren Gunsten vorträgt und womit sie dies zu belegen sucht – und worauf ich keinen Zugriff habe, das kann ich nicht vorlegen. Ganz neu ist der Mechanismus jedoch nicht: Auch mit der deutschen Umsetzung der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie hat der Gesetzgeber eine ähnliche Befugnis zur Vorlageanordnung eingeführt. Die Gerichte nutzen diese bislang jedoch äußerst zurückhaltend, was auch bei Musterverfahren in Zukunft der Fall sein könnte.
Verfahrensbeschleunigung
Das bereits erwähnte Musterverfahren der DEKA Investment GmbH gegen VW und Porsche wird seit 2016 auf der Grundlage eines Vorlagebeschlusses des Landgerichts geführt, der fast 200 Feststellungsziele umfasst. Damit sollen die übergeordneten tatsächlichen und rechtlichen Fragen für alle bei den Landgerichten anhängigen Verfahren, die im Hinblick auf das Musterverfahren ausgesetzt wurden, geklärt werden. Das Oberlandesgericht hat im Juli 2023 einen 69-seitigen Beweisbeschluss erlassen, nach dem unter anderem 86 Zeuginnen und Zeugen vernommen werden sollen. Die Beweisaufnahme dauert immer noch an und ein Ende ist derzeit nicht absehbar.
Die Reform des KapMuG zielt auf eine effizientere Verfahrensgestaltung und damit einhergehende Beschleunigung durch erweiterte Befugnisse des Oberlandesgerichts. So kann das KapMuG-Gericht künftig durch einen Eröffnungsbeschluss die Feststellungsziele des Musterverfahrens eigenständig festlegen, ohne an die Vorlagefragen des Landgerichts gebunden zu sein. Es kann so die zu entscheidenden Sach- und Rechtsfragen auf die aus seiner Sicht relevanten Fragen beschränken und den Streitstoff erheblich reduzieren. Zudem kann es den Musterfall künftig durch den Erlass von Teil-Musterentscheiden nach eigenem Ermessen abschichten und systematisch strukturieren.
Ausblick
Das KapMuG war bislang stets mit einem Datum verknüpft, ab dem es automatisch außer Kraft treten sollte. Diese Regelung ist der besonderen Rolle als kollektiver Rechtsdurchsetzungsmechanismus geschuldet, welcher dem deutschen Zivilprozessrecht eher fremd war. Im Rahmen der Reform wurde das KapMuG entfristet, wobei eine Evaluierung des Gesetzes nach fünf Jahren ab Inkrafttreten des reformierten Gesetzes vorgesehen ist. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit kollektiver Rechtsdurchsetzung nun endgültig anerkennt und Musterverfahren in Zukunft nicht mehr grundsätzlich in Frage stellt .
Die Oberlandesgerichte sind nun mit einer Reihe von Befugnissen ausgestattet, die Musterverfahren deutlich effizienter gestalten und damit beschleunigen können. Ob dies in der Praxis gelingt, wird maßgeblich von den Oberlandesgerichten, aber auch den Streitparteien selbst abhängen. Es besteht jedoch die berechtigte Hoffnung, dass Musterverfahren, insbesondere für (ausländische) institutionelle Anleger, in Zukunft effizienter und kürzer gestaltet werden. Ob die Reform ausreicht, um geschädigten Anlegern tatsächlich eine effektivere Rechtsdurchsetzung zu ermöglichen, bleibt abzuwarten.
Autoren: Dr. Malte Stübinger ist General Counsel Germany beim internationalen Prozessfinanzierer Deminor Litigation Funding in Hamburg, seit 2015 als Rechtsanwalt zugelassen, seit 2021 in Doppelzulassung als Syndikusrechtsanwalt bei Deminor tätig; in seiner Praxis ist er regelmäßig mit KapMuG-Verfahren befasst. Dr. Benedikt Kaneko war Rechtsreferendar bei Deminor in Hamburg.